Karl Popper: Woran Glaubt der Westen?
Aus: Karl Popper, Auf der Suche nach einer bessen Welt
Vortrag, gehalten in Zürich, im Jahre 1958, auf Einladung von Albert Hunold. Zuerst veröffentlicht in: Erziehung zur Freiheit. Sozialwissenschaftliche Studien für das Schweizerische Institut für Auslandsforschung, hrsg. von Albert Hunold, Bd. 7, Erlenbach-Zürich/ Stuttgart 1959.
Woran glaubt der Westen? (gestohlen vom Autor der »Offenen Gesellschaft«)
Leider muß ich mit einer Entschuldigung beginnen: mit einer Entschuldigung für den Titel meines Vortrages. Dieser Titel lautet: Woran glaubt der Westen? Wenn ich an die Geschichte des Ausdruckes »der Westen« denke, so frage ich mich, ob ich ihn nicht hätte vermeiden sollen. Denn der Ausdruck »der Westen« ist eine Übersetzung des englischen Ausdrucks »the west«, und dieser Ausdruck hat sich in England besonders durch die Übersetzung von Spenglers Untergang des Abendlandes eingebürgert, denn dessen englischer Titel ist »The Decline of the West«. Aber ich möchte natürlich nichts mit Spengler zu tun haben. Denn ich halte ihn nicht nur für einen falschen Propheten eines vorgeblichen Unterganges, sondern auch für ein Symptom eines wirklichen Unterganges, wenn auch nicht des Westens: Was seine Prophezeiungen illustrieren, das ist der Untergang des intellektuellen Gewissens vieler abendländischer Denker. Sie illustrieren den Sieg der intellektuellen Unredlichkeit, des Versuches, ein wissensdurstiges Publikum durch bomba- 329
stische Worte zu betören, kurz, den Sieg der Hegelei und des hegelisierenden Historizismus, den Schopenhauer vor mehr als hundert Jahren als die geistige Pest Deutschlands entlarvte und bekämpfte. Durch die Wahl meines Titels und wegen der hegelianischen Anklänge, die durch meinen Titel erweckt werden könnten, bin ich gezwungen, meinen Vortrag damit zu beginnen, daß ich mich von der hegelianischen Philosophie, von der Prophetie des Unterganges wie auch von der Prophetie des Fortschrittes, klar distanziere. Ich möchte mich daher zuallererst als einen ganz altmodischen Philosophen vorstellen – als einen Anhänger jener längst überwundenen und verschwundenen Bewegung, die Kant »Aufklärung« nannte und andere »Aufklärerei« oder auch »Aufkläricht«. Das bedeutet aber, daß ich ein Rationalist bin und an die Wahrheit und die Vernunft glaube. Es bedeutet natürlich nicht, daß ich an die Allmacht der menschlichen Vernunft glaube. Ein Rationalist ist keineswegs, wie unsere anti-rationalistischen Gegner oft behaupten, ein Mensch, der ein reines Vernunftswesen sein möchte und der andere zu reinen Vernunftswesen machen möchte. Das wäre ja höchst unvernünftig. Jeder vernünftige Mensch, und daher auch, hoffe ich, ein Rationalist, weiß sehr gut, daß die Vernunft im menschlichen Leben nur eine sehr bescheidene Rolle spielen kann. Es ist die Rolle der kritischen Überlegung, der kritischen Diskussion. Was ich meine, wenn ich von der Vernunft spreche oder vom Rationalismus, ist weiter nichts als die Überzeugung, daß wir durch Kritik lernen können – durch kritische Diskus- 330
sion mit anderen und durch Selbstkritik. Ein Rationalist ist also ein Mensch, der bereit ist, von anderen zu lernen, nicht dadurch etwa, daß er jede Belehrung einfach hinnimmt, sondern dadurch, daß er seine Ideen von anderen kritisieren läßt und daß er die Ideen anderer kritisiert. Der Nachdruck liegt hier auf den Worten »kritische Diskussion«: Der rechte Rationalist glaubt nicht, daß er selbst oder sonst jemand die Weisheit mit dem großen Löffel gegessen habe. Er weiß, daß wir immer wieder neue Ideen brauchen und daß uns die Kritik nicht zu neuen Ideen verhilft. Aber sie kann uns dazu verhelfen, den Hafer von der Spreu zu sondern. Er weiß auch, daß die Annahme oder die Verwerfung einer Idee niemals eine rein rationale Angelegenheit sein kann. Aber nur die kritische Diskussion kann uns helfen, eine Idee von mehr und mehr Seiten zu sehen und sie gerecht zu beurteilen. Ein Rationalist wird natürlich nicht behaupten, daß sich alle menschlichen Beziehungen in der kritischen Diskussion erschöpfen. Das wäre wieder höchst unvernünftig. Aber ein Rationalist kann vielleicht darauf hinweisen, daß die Einstellung des »give and take«, des Gebens und des Annehmens, die der kritischen Diskussion zugrunde liegt, auch rein menschlich von großer Bedeutung ist. Denn ein Rationalist wird sich leicht darüber klar, daß er seine Vernunft anderen Menschen verdankt. Er wird leicht einsehen, daß die kritische Einstellung nur das Ergebnis der Kritik anderer sein kann und daß man nur durch die Kritik anderer selbstkritisch sein kann. Die rationale Einstellung kann vielleicht am besten durch den Satz ausgedrückt werden: Vielleicht hast Du 331
recht, und vielleicht habe ich unrecht; und wenn wir auch in unserer kritischen Diskussion vielleicht nicht endgültig entscheiden werden, wer von uns recht hat, so können wir doch hoffen, nach einer solchen Diskussion die Dinge etwas klarer zu sehen als vorher. Wir können beide voneinander lernen, solange wir nicht vergessen, daß es nicht so sehr darauf ankommt, wer recht behält, als vielmehr darauf, der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Denn es geht uns ja beiden vor allem um die objektive Wahrheit. Das ist in Kürze, was ich meine, wenn ich mich als einen Rationalisten deklariere. Aber wenn ich mich als reinen Aufklärer deklariere, dann meine ich noch etwas mehr. Ich denke dann an die Hoffnung einer Selbstbefreiung durch das Wissen, die Pestalozzi inspirierte, und an den Wunsch, uns aus unserem dogmatischen Schlummer aufzurütteln, wie es Kant nannte. Und ich denke an eine Pflicht jedes Intellektuellen, die leider die meisten Intellektuellen, insbesondere seit den Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, vergessen haben. Es ist die Pflicht, nicht als Prophet zu posieren. Gegen diese Pflicht haben insbesondere die Denker Deutschlands schwer gesündigt; zweifellos weil es von ihnen erwartet wurde, daß sie als Propheten auftreten – als Religionsstifter, als Offenbarer der Geheimnisse der Welt und des Lebens. Hier, wie überall, erzeugt die ständige Nachfrage leider ein Angebot. Propheten und Führer wurden gesucht. Kein Wunder, daß Propheten und Führer gefunden wurden. Was insbesondere im deutschen Sprachbereich auf diesem Gebiet gefunden wurde, grenzt ans Un- 332
glaubliche. In England sind diese Dinge glücklicherweise sehr wenig beliebt. Wenn ich die Situation in den beiden Sprachbereichen vergleiche, dann steigt meine Bewunderung für England über alle Grenzen. Man muß sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die Aufklärung mit Voltaires Briefen aus London über die Engländer anfing: mit dem Versuch, das intellektuelle Klima Englands, jene Trockenheit, die so merkwürdig mit seinem physischen Klima kontrastiert, auf dem Kontinent einzuführen. Diese Trockenheit, diese Nüchternheit, ist einfach ein Ausfluß des Respektes vor dem Nebenmenschen, dem man nichts einreden will oder vorzumachen versucht. Im deutschen Sprachbereich ist es leider anders. Hier will jeder Intellektuelle ein Mitwisser der letzten Geheimnisse, der letzten Dinge sein. Hier werden nicht nur Philosophen, sondern auch Wirtschaftler, Ärzte und insbesondere Psychologen zu Religionsstiftern. Was ist das äußere Kennzeichen dieser beiden Einstellungen – der des Aufklärers und der des selbsternannten Propheten? Es ist die Sprache. Der Aufklärer spricht so einfach, als es eben möglich ist. Er will verstanden werden. In dieser Hinsicht ist unter den Philosophen wohl Bertrand Russell unser unübertroffener Meister: auch dann, wenn man ihm nicht beistimmen kann, muß man ihn bewundern. Er spricht immer klar, einfach und direkt. Warum liegt uns Aufklärern so viel an der Einfachheit der Sprache? Weil der rechte Aufklärer, der rechte Rationalist, niemals überreden will. Ja, er will eigentlich nicht einmal überzeugen: Er bleibt sich stets dessen bewußt, daß er sich 333
ja irren kann. Vor allem aber achtet er die Selbständigkeit, die geistige Unabhängigkeit des anderen zu hoch, als daß er ihn in wichtigen Dingen überzeugen wollte; viel eher will er seinen Widerspruch herausfordern, seine Kritik. Nicht überzeugen will er, sondern aufrütteln, zur freien Meinungsbildung herausfordern. Die freie Meinungsbildung ist ihm wertvoll. Sie ist ihm nicht nur darum wertvoll, weil wir mit der freien Meinungsbildung der Wahrheit näher kommen können, sondern auch darum, weil er die freie Meinungsbildung als solche respektiert. Er respektiert sie auch dann, wenn er eine Meinung für grundfalsch hält. Einer der Gründe, warum der Aufklärer nicht überreden und nicht einmal überzeugen will, ist der folgende. Er weiß, daß es außerhalb des engen Gebietes der Logik und vielleicht der Mathematik keine Beweise gibt. Um es kurz zu sagen, beweisen kann man nichts. Man kann wohl Argumente vorbringen und man kann Ansichten kritisch untersuchen. Aber außerhalb der Mathematik ist unsere Argumentierung niemals lückenlos. Wir müssen immer die Gründe abwägen; wir müssen immer entscheiden, welche Gründe mehr Gewicht haben: die Gründe, die für eine Ansicht sprechen, oder die, die gegen sie sprechen. So enthalten die Wahrheitssuche und die Meinungsbildung immer ein Element der freien Entscheidung. Und es ist die freie Entscheidung, die eine Meinung menschlich wertvoll macht. Diese hohe Wertschätzung der freien, persönlichen Meinung hat die Aufklärung von John Locke übernommen und fortgebildet. Sie ist zweifellos das direkte Ergebnis der eng- 334
lischen und der kontinental-europäischen Religionskämpfe. Diese Kämpfe brachten schließlich die Idee der religiösen Toleranz hervor. Und diese Idee der religiösen Toleranz ist keineswegs eine bloß negative Idee, wie es so oft (zum Beispiel von Arnold Toynbee) behauptet wird. Es ist nicht nur der Ausdruck der Kampfesmüdigkeit und der Einsicht, daß es aussichtslos ist, Konformität auf dem Gebiete der Religion durch den Terror zu erzwingen. Ganz im Gegenteil, die religiöse Toleranz entspringt der positiven Erkenntnis, daß eine erzwungene religiöse Einstimmigkeit völlig wertlos ist: daß nur der religiöse Glaube von Wert sein kann, der frei angenommen wurde. Und diese Einsicht führt weiter. Sie führt dazu, jeden ehrlichen Glauben zu respektieren, und sie führt damit zum Respekt vor dem einzelnen und seiner Meinung. Sie führt, in den Worten von Immanuel Kant (der der letzte große Philosoph der Aufklärung war) zur Anerkennung der Würde der menschlichen Person. Unter dem Satz von der Würde der Person verstand Kant das Gebot, jeden Menschen und seine Überzeugung zu respektieren. Kant verband diese Regel aufs engste mit dem Prinzip, das die Engländer mit Recht die goldene Regel nennen und das im Deutschen etwas banal klingt: »Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu!« Kant verknüpfte fernerhin dieses Prinzip mit der Idee der Freiheit: der Gedankenfreiheit, wie sie Schillers Marquis Posa von Philipp verlangte; der Gedankenfreiheit, wie sie der Determinist Spinoza damit zu begründen versuchte, daß es eine unveräußerliche Freiheit sei, die der Tyrann uns zu entreißen sucht, die er uns aber nie entreißen kann. 335
Ich glaube, daß wir in diesem Punkt nicht mehr mit Spinoza übereinstimmen können. Vielleicht ist es richtig, daß die Gedankenfreiheit niemals völlig unterdrückt werden kann. Aber sie kann zumindest weitgehend unterdrückt werden. Denn ohne freien Gedankenaustausch kann es keine wirkliche Gedankenfreiheit geben. Wir brauchen andere, um an ihnen unsere Gedanken zu erproben; um herauszufinden, ob sie stichhaltig sind. Die kritische Diskussion ist die Grundlage des freien Denkens des Einzelnen. Das bedeutet aber, daß die volle Gedankenfreiheit ohne politische Freiheit unmöglich ist. Und die politische Freiheit wird damit zur Vorbedingung des vollen, freien Vernunftgebrauches jedes Einzelmenschen. Aber die politische Freiheit kann ihrerseits nur durch die Tradition gesichert werden, durch die traditionelle Bereitschaft, sie zu verteidigen, für sie zu kämpfen, für sie Opfer zu bringen. – Es ist oft behauptet worden, daß der Rationalismus im Gegensatz zu aller Tradition steht; und es ist wahr, daß sich der Rationalismus vorbehält, jede Tradition kritisch zu diskutieren. Aber letzten Endes beruht der Rationalismus selbst auf Tradition: auf der Tradition des kritischen Denkens, der freien Diskussion, der einfachen, klaren Sprache und der politischen Freiheit. Ich habe hier versucht zu erklären, was ich unter Rationalismus und Aufklärung verstehe; denn da ich mich von Spengler und anderen Hegelianern distanzieren wollte, mußte ich mich Ihnen gegenüber als Rationalist und als Aufklärer bekennen, als einer der letzten Nachzügler einer längst veralteten und ganz und gar unmodernen Bewegung. 336
Aber, so können Sie wohl fragen, ist das nicht eine etwas lange Einleitung? Was hat denn das alles mit unserem Thema zu tun? Sie sind ja gekommen, um etwas über den Westen zu hören, und woran der Westen glaubt. Und statt dessen rede ich nun über mich selbst und woran ich glaube. Mit Recht können Sie wohl fragen, wie lange ich noch Ihre Geduld mißbrauchen werde. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, es mir nicht als Unbescheidenheit auszulegen, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich schon mitten in unserem Thema bin. Ich weiß sehr wohl, daß mein Rationalismus und meine Aufklärerei höchst unzeitgemäße Ideen sind und daß es lächerlich wäre, zu behaupten, daß der Westen, bewußt oder unbewußt, an diese Ideen glaubt. Aber obwohl diese Ideen heutzutage von fast allen Intellektuellen mit Verachtung behandelt werden, so ist doch zumindest der Rationalismus eine Idee, ohne die der Westen gar nicht existieren würde. Denn nichts ist so charakteristisch für unsere westliche Zivilisation wie die Tatsache, daß sie eine wissenschaftsbeflissene Zivilisation ist. Sie ist die einzige Zivilisation, die eine Naturwissenschaft hervorgebracht hat und in der diese Wissenschaft eine geradezu entscheidende Rolle spielt. Aber diese Naturwissenschaft ist das unmittelbare Produkt des Rationalismus: Sie ist das Produkt des Rationalismus der antiken, griechischen Philosophie: der Vorsokratiker. Bitte, verstehen Sie mich recht: Es ist hier nicht meine These, daß der Westen an den Rationalismus glaubt, entweder bewußt oder unbewußt. Über den Glauben des Westens werde ich später sprechen. Hier möchte ich nur fest- 337
stellen, wie es schon viele andere vor mir getan haben, daß unsere westliche Zivilisation, historisch betrachtet, weitgehend ein Produkt jener rationalistischen Denkweise ist, die unsere Zivilisation von den Griechen geerbt hat. Es scheint mir ziemlich klar zu sein, daß, wenn wir vom Westen, oder wie Spengler, vom Abendland sprechen, wir eben diese rationalistisch beeinflußte Zivilisation meinen. Wenn ich es also hier versucht habe, den Rationalismus zu erklären, so war mein Beweggrund nicht nur, daß ich mich von gewissen anti-rationalistischen Strömungen distanzieren wollte; sondern ich wollte auch den Versuch machen, Ihnen die vielverlästerte rationalistische Tradition nahe zu bringen: die Tradition, die unsere westliche Zivilisation entscheidend beeinflußt hat – so sehr, daß es wohl angeht, die westliche Zivilisation als die einzige zu charakterisieren, in der die rationalistische Tradition eine dominierende Rolle spielt. Mit andern Worten, ich mußte vom Rationalismus sprechen, um zu erklären, was ich meine, wenn ich vom Westen spreche. Und ich mußte gleichzeitig den Rationalismus ein wenig in Schutz nehmen, da er allzu oft in Form einer Karikatur dargestellt wird. Damit habe ich nun vielleicht erklärt, was ich meine, wenn ich vom Westen spreche. Aber ich muß noch hinzufügen, daß ich, wenn ich vom Westen spreche, in erster Linie an England denke, sogar noch vor der Schweiz. Vielleicht ist das nur deshalb so, weil ich in England lebe; aber ich glaube, daß es auch noch andere Gründe hat. England ist das Land, das nicht kapitulierte, als es Hitler allein gegenüberstand. Und wenn ich mich jetzt der Frage zuwende 338
»Woran glaubt der Westen?«, werde ich wohl hauptsächlich daran denken, woran meine Freunde in England glauben und andere Menschen in England. Woran glauben diese Menschen? Sicherlich nicht an den Rationalismus. Sicher nicht an die Wissenschaft, wie sie vom griechischen Rationalismus geschaffen wurde. Im Gegenteil, der Rationalismus wird heute allgemein als veraltet empfunden. Und was die Wissenschaft betrifft, so ist sie in den letzten Jahrzehnten den meisten von uns Westlern zuerst fremd und unverständlich geworden und später, nach der Atombombe, ungeheuerlich und unmenschlich. Woran also glauben wir heute? Woran glaubt der Westen? Wenn wir uns die Frage, woran wir glauben, ernsthaft vorlegen und wenn wir sie ehrlich zu beantworten versuchen, so werden wohl die meisten von uns gestehen, daß sie nicht recht wissen, woran sie glauben sollen. Die meisten von uns haben es erlebt, daß sie an diese oder jene falschen Propheten glaubten und durch die Vermittlung dieser falschen Propheten auch an diese oder jene falschen Götter. Wir alle haben Erschütterungen in unserem Glauben durchgemacht; und auch die wenigen, deren Glauben durch alle diese Erschütterungen unerschüttert hindurchgegangen ist, werden wohl zugeben müssen, daß es heute nicht leicht ist, zu wissen, woran wir im Westen glauben. Meine Bemerkung, daß es nicht leicht ist, zu wissen, woran der Westen glaubt, klingt vielleicht recht negativ. Ich kenne viele und gute Menschen, die es als eine Schwäche des Westens ansehen, daß wir im Westen keine tragende, einheitliche Idee, keinen einheitlichen Glauben haben, den wir der 339
kommunistischen Religion des Ostens stolz gegenüberstellen können. Diese weitverbreitete Ansicht ist überaus verständlich. Aber ich halte sie für grundfalsch. Unser Stolz sollte es sein, daß wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen, gute und schlechte; daß wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, daß wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee. Es ist nicht lange her, daß Harold Macmillan, jetzt britischer Ministerpräsident, aber damals noch Außenminister, auf die Frage des Herrn Chruschtschow, woran wir im Westen denn eigentlich glauben, die Antwort gab: an das Christentum. Und vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen, kann man ihm wohl nicht unrecht geben. Abgesehen vom griechischen Rationalismus hat nichts auf die Ideengeschichte des Westens einen so großen Einfluß gehabt wie das Christentum und die langen Zwistigkeiten und Kämpfe innerhalb des Christentums. Dennoch halte ich Macmillans Antwort für verfehlt. Sicher gibt es gute Christen unter uns. Aber gibt es ein Land, gibt es eine Regierung, gibt es eine Politik, die man ehrlich und aufrichtig als christlich bezeichnen kann? Kann es eine solche Politik geben? Ist nicht vielmehr der lange Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Macht und die Niederlage des weltlichen Machtanspruches der Kirche eine 340
jener geschichtlichen Tatsachen, die die Tradition des Westens zutiefst beeinflußt haben? Und ist das Christentum ein einheitlicher Begriff? Gibt es nicht viele unvereinbare Interpretationen dieses Begriffs? Aber wichtiger noch als diese wichtigen Fragen ist eine Antwort, die Chruschtschow, wie eben jeder Marxist seit Karl Marx, bereit haben mußte. »Ihr seid ja gar keine Christen«, so antworten die Kommunisten. »Ihr nennt Euch ja nur Christen. Die wirklichen Christen sind wir, die wir uns nicht Christen, sondern Kommunisten nennen. Denn Ihr betet den Mammon an, während wir für die Unterdrückten kämpfen, für die Mühseligen und Beladenen.« Es ist kein Zufall, daß Antworten dieser Art auf echte Christen immer den größten Eindruck gemacht haben, und daß es im Westen immer christliche Kommunisten gab und daß es sie immer noch gibt. Ich zweifle nicht an der ehrlichen Überzeugung des Bischofs von Bradford, wenn er 1942 unsere westliche Gesellschaft als ein Werk des Satans bezeichnete und alle gläubigen Diener der christlichen Religion aufforderte, für die Vernichtung unserer Gesellschaft und für den Sieg des Kommunismus zu arbeiten. Seitdem ist der Satanismus Stalins und seiner Folterknechte von den Kommunisten selbst zugegeben worden; ja die These vom Satanismus Stalins war für eine kurze Weile geradezu ein integraler Bestandteil der Generallinie der kommunistischen Partei. Dennoch gibt es echte Christen, die noch immer so denken wie der frühere Bischof von Bradford. Wir können uns also nicht, wie Harold Macmillan, auf das Christentum berufen. Unsere Gesellschaft ist keine 341
christliche Gesellschaft – ebensowenig wie sie eine rationalistische Gesellschaft ist. Und das ist verständlich. Die christliche Religion verlangt von uns eine Reinheit des Handelns und des Denkens, die nur von Heiligen ganz erreicht werden kann. Die zahllosen Versuche, eine Gesellschaftsordnung aufzubauen, die ganz vom Geiste des Christentums beseelt ist, haben deshalb immer fehlgeschlagen. Sie haben immer und mit Notwendigkeit zur Intoleranz geführt, zum Fanatismus. Nicht nur Rom und Spanien können davon erzählen, sondern auch Genf und Zürich und zahlreiche amerikanische christlich-kommunistische Experimente. Der marxistische Kommunismus ist nur das schrecklichste Beispiel eines solchen Versuches, den Himmel auf Erden zu verwirklichen: Es ist ein Experiment, von dem wir lernen, wie leicht die, die sich anmaßen, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, die Hölle verwirklichen können. Selbstverständlich ist es nicht die Idee des Christentums, die zum Terror und zur Unmenschlichkeit führt. Es ist vielmehr die Idee der einen, einheitlichen Idee, der Glaube an den einen, einheitlichen und ausschließlichen Glauben. Und da ich mich hier als Rationalist bezeichnet habe, ist es wohl meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß der Terror des Rationalismus, der Religion der Vernunft, wenn möglich noch schlimmer war als der des christlichen oder des mohammedanischen oder des jüdischen Fanatismus. Eine echt rationalistische Gesellschaftsordnung ist ebenso unmöglich wie eine echt christliche, und der Versuch, das Unmögliche zu verwirklichen, muß hier zumindest zu den- 342
selben Scheußlichkeiten führen. Das Beste, was man dem Terror Robespierres noch nachsagen kann, ist, daß er verhältnismäßig kurzlebig war. Jene wohlmeinenden Enthusiasten, die den Wunsch und das Bedürfnis haben, den Westen unter der Führung einer begeisternden Idee zu vereinheitlichen, sie wissen nicht, was sie tun. Sie wissen nicht, daß sie mit dem Feuer spielen – daß es die totalitäre Idee ist, die sie anlockt. Nein, es ist nicht die Einheit der Idee, es ist die Vielheit der Ideen, der Pluralismus, auf den wir im Westen stolz sein sollten. Und auf die Frage »Woran glaubt der Westen?« können wir jetzt eine erste und vorläufige Antwort geben. Denn wir können mit Stolz sagen, daß wir im Westen an viele und verschiedene Dinge glauben, an vieles, das wahr ist, und an vieles, das unwahr ist; an gute Dinge und an böse Dinge. Meine erste und vorläufige Antwort auf die Frage »Woran glauben wir im Westen?« ist also ein Hinweis auf eine fast triviale Tatsache: Wir glauben an vielerlei. Aber diese triviale Tatsache ist von überragender Bedeutung. Natürlich gibt es viele, die die westliche Toleranz der Meinungen geleugnet haben. Bernhard Shaw, zum Beispiel, hat immer wieder behauptet, daß unser Zeitalter und unsere Zivilisation ebenso intolerant sind wie alle anderen. Er versuchte zu beweisen, daß sich nur der Inhalt unserer abergläubischen Dogmatik geändert hat; daß an die Stelle des religiösen Dogmas das wissenschaftliche Dogma getreten ist; und daß, wer es heutzutage wagte, dem wissenschaftlichen Dogma entgegenzutreten, ebenso verbrannt werden 343
würde wie einst Giordano Bruno. Aber obwohl er alles tat, um seine Mitmenschen durch seine Meinungen zu schokkieren, gelang es ihm nicht. Es ist auch nicht wahr, daß er, wie ein Hofnarr, alles sagen durfte, weil es nicht ernst genommen wurde. Ganz im Gegenteil. Vielleicht ist er vergessen, aber diese Ideen werden auch heute noch von vielen sehr ernst genommen, und insbesondere seine Theorie über die westliche Intoleranz hatte einen recht großen Einfluß auf seine Zeitgenossen. Ich zweifle nicht, daß sein Einfluß größer war als der Giordano Brunos; aber er starb, mehr als neunzig Jahre alt, nicht am Scheiterhaufen, sondern an den Folgen eines Knochenbruches. Ich schlage also vor, meine erste vorläufige Antwort auf unsere Frage zu akzeptieren und uns nun den vielen verschiedenen Dingen zuzuwenden, an die die vielen verschiedenen Menschen bei uns im Westen glauben. Es sind gute Dinge, und es sind böse Dinge, wenigstens erscheinen sie mir so. Und da ich natürlich die guten Dinge ausführlicher behandeln will, so bespreche ich zuerst die bösen, um sie aus dem Weg zu räumen. Es gibt viele falsche Propheten bei uns im Westen und viele falsche Götter. Es gibt Menschen, die an die Macht glauben und an die Versklavung anderer. Es gibt Menschen, die an eine geschichtliche Notwendigkeit glauben, an ein Gesetz der Geschichte, das wir erraten können und das uns erlaubt, die Zukunft vorauszusehen und uns zur rechten Zeit auf die Seite der zukünftigen Machthaber zu schlagen. Es gibt Propheten des Fortschritts und Propheten des Rückschritts, und sie alle finden gläubige Schüler, trotz allem. 344
Und es gibt Propheten und Gläubige der Gottheit Erfolg, der efficiency, der Produktionssteigerung um jeden Preis, des Wirtschaftswunders und der Macht des Menschen über die Natur. Aber den größten Einfluß unter den Intellektuellen haben die raunzenden Propheten des Pessimismus. Heutzutage scheint es fast, als ob alle zeitgenössischen Denker, denen ihr guter Ruf auch nur einen Pfifferling wert ist, sich darüber einig sind, daß wir in einer recht elenden Zeit leben – in einer geradezu verbrecherischen Zeit, vielleicht sogar in der schlechtesten aller Zeiten. Wir wandeln am Rande des Abgrundes, und es ist unsere moralische Schlechtigkeit, vielleicht sogar die Erbsünde, die uns so weit gebracht hat. Wir sind, so sagt der von mir hochverehrte Bertrand Russell, intelligent – vielleicht zu intelligent; aber vom Standpunkt der Ethik betrachtet, sind wir nicht gut genug. Unser Unglück ist, daß sich unsere Intelligenz schneller entwickelt hat als unsere moralischen Gaben. So kommt es, daß wir gescheit genug waren, Atombomben und Wasserstoffbomben zu konstruieren; aber wir waren moralisch zu unreif, um einen Weltstaat zu bauen, der allein uns vor einem alles vernichtenden Krieg bewahren kann. Meine Damen und Herren: ich muß gestehen, daß ich diese pessimistische Ansicht von unserer Zeit für grundfalsch halte. Ich halte sie für eine gefährliche Mode. Ich möchte sicher nichts gegen den Weltstaat sagen oder gegen eine Weltföderation. Aber es erscheint mir völlig verfehlt, das Versagen der Vereinten Nationen auf ein moralisches Versagen der Staatsbürger, der Angehörigen dieser Nationen, zurückzuführen. Im Gegenteil: ich bin fest überzeugt 345
davon, daß wir im Westen fast alle bereit wären, jedes nur erdenkliche Opfer zu bringen, um den Frieden auf Erden zu sichern, wenn wir nur sehen könnten, wie wir unser Opfer so bringen könnten, daß es etwas nützt. Ich persönlich kenne niemanden, von dem ich zweifle, daß er bereit wäre, sein Leben hinzugeben, wenn er dadurch der Menschheit den Frieden sichern könnte. Ich will damit nicht sagen, daß es nicht vielleicht doch Leute gibt, die dazu nicht bereit wären, aber ich möchte behaupten, daß sie selten sind. Wir wollen also den Frieden. Das bedeutet aber nicht, daß wir den Frieden um jeden Preis wollen. Meine Damen und Herren, es war nicht meine Absicht, und es ist auch nicht meine Absicht, diesen Vortrag dem Problem der Atomwaffen zu widmen. In England spricht man sehr wenig über diese Fragen; und obwohl Bertrand Russell allgemein verehrt und geliebt wird, so ist es ihm doch kaum gelungen, in England eine wirkliche Diskussion über diese Dinge in Gang zu bringen. Meine Studenten, zum Beispiel, luden ihn ein, einen Vortrag über dieses Thema zu halten, und er wurde mit Ovationen empfangen. Sie waren begeistert über den Mann, sie hörten ihm mit dem größten Interesse zu, sie sprachen auch in der Diskussion, aber soviel ich weiß, ließen sie dann das Thema fallen. In meinem Seminar, in dem alle nur erdenklichen philosophischen und politischen Probleme in der freiesten Weise diskutiert werden, von der Naturphilosophie bis zur politischen Ethik, hat noch nie ein Student Russells Problem angeschnitten. Dabei wissen wir alle, was wir darüber denken. Ich bin mir klar darüber, daß hier auf 346
dem Kontinent die Lage ganz anders ist. Es wird Sie vielleicht interessieren, daß ich Russells Argumente zuerst vor acht Jahren [also im Jahre 1950] in Amerika hörte, von einem Atomphysiker, der vielleicht mehr als irgendein anderer dazu beigetragen hat, den Entschluß zum Bau der Atombombe durchzusetzen. Sein Standpunkt war, daß die Kapitulation dem Atomkrieg vorzuziehen sei. Es würden dann wohl die bösesten Tage für die Menschheit kommen, durch die sie je hindurchgegangen ist, so meinte er; aber einmal wird die Freiheit doch wieder erkämpft werden. Der Atomkrieg hingegen wäre das Ende. Dieselbe Idee wurde von anderen so ausgedrückt, daß es besser und sogar ehrenvoller sei, unter den Russen zu leben, als von Atombomben getötet zu werden. Ich achte diese Meinung, aber ich halte die Alternative für falsch gestellt. Sie ist falsch, weil sie die Möglichkeit außer acht läßt, den Atomkrieg auf andere Art als durch Kapitulation zu vermeiden. Wir wissen ja nicht, daß der Atomkrieg unvermeidlich ist, und wir können es gar nicht wissen. Und wir wissen nicht, ob die Kapitulation nicht den Atomkrieg herbeibringen würde. Die wahre Alternative, vor der wir stehen, ist die: Sollen wir kapitulieren, um die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges zu verringern, oder sollen wir uns, wenn es sein muß, mit allen Mitteln zur Wehr setzen? Auch diese Alternative bedeutet eine schwere Entscheidung. Aber es ist nicht die Entscheidung zwischen einer Partei des Friedens und einer Partei des Krieges. Sondern es ist die Entscheidung zwischen einer Partei, die daran 347
glaubt, daß sie den Wahrscheinlichkeitsgrad eines Atomkrieges hinreichend genau einschätzen kann, und die das Risiko für zu groß hält – für so groß, daß sie die Kapitulation vorzieht – und andererseits einer Partei, die gleichfalls den Frieden will, die aber auch an die Tradition der Freiheit glaubt und sich daran erinnert, daß die Freiheit niemals ohne Risiko verteidigt werden kann; daß Churchill nicht vor Hitler kapitulierte, als seine Lage fast hoffnungslos aussah, und daß niemand an Kapitulation dachte, als Hitler seine V-Waffen ankündigte, obwohl die Eingeweihten Grund hatten zu glauben, daß er bereits Atomwaffen zur Verfügung habe. Auch die Schweiz war mehr als einmal in einer fast aussichtslosen Lage, zuletzt wohl Hitler gegenüber, und viele wollten kapitulieren. Aber es gelang ihr, ihre Freiheit und ihre bewaffnete Neutralität aufrechtzuerhalten. Worauf ich hier hinweisen möchte, ist also, daß beide Parteien Kriegsgegner sind. Auch sind sich beide Parteien darin einig, daß sie keine unbedingten Gegner des Krieges sind. Und schließlich glauben beide Parteien nicht nur an den Frieden, sondern auch an die Freiheit. Alles das haben die beiden Parteien gemeinsam. Der Gegensatz erhebt sich mit der Frage: Sollen und können wir hier Wahrscheinlichkeitsgrade kalkulieren, oder sollen wir der Tradition folgen? Es liegt also hier ein Gegensatz vor zwischen dem Rationalismus und der Tradition. Der Rationalismus ist, so scheint es, für die Kapitulation; die Tradition der Freiheit ist dagegen. 348
Ich habe mich Ihnen als einen Rationalisten vorgestellt und als einen Verehrer von Bertrand Russell. Aber in diesem Konflikt wähle ich nicht den Rationalismus, sondern die Tradition. Ich glaube nicht, daß wir in solchen Fragen Wahrscheinlichkeitsgrade abschätzen können. Wir sind nicht allwissend; wir wissen nur wenig, und wir sollten nicht Vorsehung spielen. Gerade als Rationalist glaube ich, daß der Rationalismus seine Grenzen hat und daß er ohne Tradition unmöglich ist. Meine Damen und Herren, ich möchte es vermeiden, mich in eine Polemik einzumischen, die schon zu vielen bitteren Worten geführt hat. Ich konnte es wohl nicht vermeiden, Farbe zu bekennen. Aber ich sehe meine Aufgabe nicht darin, meinen Standpunkt zu verteidigen, sondern in der Analyse der Meinungsverschiedenheiten und dessen, was die Parteien gemeinsam haben. Denn hier können wir lernen, woran der Westen glaubt. Wenn wir uns also wieder der Frage zuwenden, an was wir hier im Westen glauben, dann können wir vielleicht sagen, daß von den vielen richtigen Antworten, die wir geben könnten, eine der wichtigsten heute wohl die ist: Wir hassen Willkür, Unterdrückung und Gewalt; und wir alle glauben an unsere Aufgabe, diese Dinge zu bekämpfen. Wir sind gegen den Krieg und gegen Erpressungen jeder Art, und ganz besonders gegen Erpressungen durch Kriegsdrohungen. Wir halten die Erfindung der Atombombe für ein Unglück. Wir wollen den Frieden und glauben an seine Möglichkeit. Wir alle glauben an die Freiheit und daß nur die Freiheit das Leben lebenswert macht. Wo sich unsere 349
Wege trennen, ist bei der Frage, ob es recht ist, der Erpressung nachzugeben und zu versuchen, den Frieden mit der Freiheit zu erkaufen. Die Tatsache, daß wir im Westen den Frieden wollen und die Freiheit und daß wir alle bereit sind, für beide die größten Opfer zu bringen, das erscheint mir wichtiger, als der Zwist zwischen den beiden Parteien, den ich geschildert habe. Und ich glaube, daß diese Tatsache es rechtfertigt, ein sehr optimistisches Bild von unserer Zeit zu entwerfen. Aber ich wage es kaum, Ihnen meine optimistische These vorzulegen. Ich fürchte, Ihr Vertrauen völlig zu verscherzen. Denn meine These ist die: Ich behaupte, daß unsere Zeit, trotz allem, die beste aller Zeiten ist, von denen wir historische Kenntnis haben; und daß die Gesellschaftsform, in der wir im Westen leben, trotz vieler Mängel, die beste ist, von der wir Kenntnis haben. Dabei habe ich keineswegs hauptsächlich den materiellen Wohlstand im Auge, obwohl es doch sehr bedeutsam ist, daß in der kurzen Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg die Armut in Nordeuropa und Westeuropa fast verschwunden ist – während in meiner Jugend und noch zwischen den beiden Weltkriegen die Armut (insbesondere als Folge der Arbeitslosigkeit) als das soziale Problem galt. Das Verschwinden der Armut, leider nur im Westen, hat verschiedene Ursachen, deren wichtigste wohl die Produktionssteigerung ist. Aber ich möchte hier besonders auf drei Ursachen hinweisen, die im Zusammenhang mit unserem Thema von Bedeutung sind: Sie zeigen deutlich, woran wir im Westen glauben. 350
Erstens hat unsere Zeit einen moralischen Glaubenssatz aufgestellt, der geradezu zu einer moralischen Selbstverständlichkeit erhoben wurde. Ich meine den Satz, daß niemand hungern darf, solange es unter uns genug zu essen gibt. Und sie hat weiter den ersten Entschluß gefaßt, den Kampf gegen die Armut nicht dem Zufall zu überlassen, sondern als eine elementare Pflicht aller zu betrachten – insbesondere jener, denen es materiell gut geht. Zweitens glaubt unsere Zeit an das Prinzip, allen eine möglichst gute Chance im Leben zu geben (»equality of opportunity«); oder mit anderen Worten, sie glaubt mit der Aufklärung an die Selbstbefreiung durch das Wissen und mit Pestalozzi an die Bekämpfung des Elends durch das Wissen; und sie glaubt daher mit Recht, daß das Universitätsstudium allen zugänglich gemacht werden soll, die die nötige Begabung haben. Drittens hat unsere Zeit in den Massen Bedürfnisse erweckt und den Ehrgeiz des Besitzes. Es ist selbstverständlich, daß das eine gefährliche Entwicklung ist, aber ohne sie ist Massenelend unvermeidlich: das wurde von den Reformern des 18. und 19. Jahrhunderts klar erkannt. Sie sahen, daß das Problem der Armut ohne die Mitarbeit der Armen unlösbar war und daß zuerst der Wunsch und der Wille, ihre Lebenslage zu verbessern, erweckt werden mußten, bevor man die Mitarbeit der Armen gewinnen konnte. Diese Einsicht wurde zum Beispiel von George Berkeley, dem Bischof von Cloine, klar formuliert. (Es ist das eine jener Wahrheiten, die der Marxismus aufgegriffen und durch Übertreibungen ins Unkenntliche verzerrt hat.) 351
Diese drei Glaubenssätze – der vom öffentlichen Kampf gegen die Armut, der von der Erziehung für jedermann und der von der Bedürfnissteigerung – haben zu höchst fragwürdigen Entwicklungen geführt. Der Kampf gegen die Armut hat in manchen Ländern einen Wohlfahrtsstaat hervorgebracht, mit einer ungeheuerlichen Wohlfahrtsbürokratie und einer fast grotesken Bürokratisierung des Ärzteund Spitalwesens; mit dem selbstverständlichen Resultat, daß nur Bruchteile der Summen, die für das Wohlfahrtswesen ausgegeben werden, denen, die es brauchten, zugute kommen. Aber wenn wir den Wohlfahrtsstaat kritisieren – und wir sollen und müssen ihn kritisieren –, dann dürfen wir nie vergessen, daß er einem höchst menschlichen und bewunderungswerten moralischen Glaubenssatz entspringt und daß eine Gesellschaft, die bereit ist, für den Kampf gegen die Armut schwere materielle Opfer (und sogar überflüssige Opfer) zu bringen, damit bewiesen hat, daß es ihr ernst ist mit diesem moralischen Glaubenssatz. Und eine Gesellschaft, die bereit ist, für ihre moralische Überzeugung solche Opfer zu bringen, hat auch das Recht, ihre Ideen zu verwirklichen. Unsere Kritik des Wohlfahrtsstaates muß daher zeigen, wie diese Ideen besser verwirklicht werden könnten. Die Idee der gleichen Aussichten (equal opportunity) und des gleichen Zuganges zur höheren Bildung hat in manchen Ländern zu ähnlichen bedauernswerten Folgen geführt. Für den unbemittelten Studenten meiner eigenen Generation war der Kampf um das Wissen ein Abenteuer, das schwere Opfer heischte, die dem errungenen Wissen einen einzig- 352
artigen Wert gaben. Ich fürchte, daß diese Einstellung im Schwinden begriffen ist. Dem neuen Recht auf Bildung entspricht eine neue Einstellung, die dieses Recht als verbrieft beansprucht; und das, was ohne Opfer als unser Recht beansprucht werden kann, wird wenig geschätzt. Indem die Gesellschaft diesen Studenten das Recht auf Bildung schenkte, stahl sie ihnen ein unersetzliches Erlebnis. Wie Sie wohl aus meinen Bemerkungen über diese beiden Punkte ersehen, besteht mein Optimismus nicht darin, daß ich alle Lösungen bewundere, die wir gefunden haben; sondern er besteht darin, daß ich die Motive bewundere, die uns dazu bewegen, es mit diesen Lösungen zu versuchen. Diese Motive werden, wie es gegenwärtig Mode ist, selbstverständlich von allen Pessimisten als heuchlerisch und grundsätzlich egoistisch entlarvt. Sie vergessen dabei, daß sogar der moralische Heuchler gerade durch seinen Akt der Heuchelei bezeugt, daß er an die moralische Überlegenheit jener Werte glaubt, die er vorgibt, um ihrer selbst willen zu schätzen. Selbst unsere großen Diktatoren waren gezwungen, zu sprechen, als ob sie an die Freiheit, den Frieden und die Gerechtigkeit glaubten. Ihre Heuchelei war eine unbewußte und ungewollte Anerkennung dieser Werte und ein unbewußtes und ungewolltes Lob der Massen, die an diese Werte glaubten. Ich komme nun zu meinem dritten Punkt, zur Bedürfnissteigerung. Hier liegt der Schaden wohl klar auf der Hand, da diese Idee einem anderen Freiheitsideal direkt zuwiderläuft – dem griechischen und christlichen Ideal der Bedürfnislosigkeit und der Selbstbefreiung durch die Askese. 353
So hat die Bedürfnissteigerung zu vielen unerfreulichen Erscheinungen geführt: zum Beispiel zum Ehrgeiz, andere einzuholen und zu überholen, statt die erreichte Lebenshaltung zu genießen; zur Unzufriedenheit statt zur Zufriedenheit. Hier sollte man aber nicht vergessen, daß wir am Beginn einer neuen Entwicklung stehen und daß wir Zeit brauchen, um zu lernen. Der neue und neuverbreitete wirtschaftliche Massenehrgeiz ist vielleicht moralisch nicht sehr gut, und er ist sicherlich nicht sehr schön; aber er ist schließlich der einzige Weg, die Armut vom einzelnen her zu überwinden. Und damit ist der neue wirtschaftliche Massenehrgeiz auch der hoffnungsvollste Weg zur Überwindung dessen, was am Wohlfahrtsstaat so fragwürdig erscheint: die Bürokratisierung und die Bevormundung des einzelnen. Denn nur der wirtschaftliche Ehrgeiz des einzelnen kann es dazu bringen, daß die Armut so selten wird, daß es schließlich unsinnig erscheinen muß, die Hauptaufgabe des Staates im Kampf gegen die Armut zu sehen. Nur die Realisierung einer hohen Lebenshaltung für die Massen kann das alte Problem der Armut lösen – dadurch eben, daß die Armut zu einer seltenen Erscheinung wird, der dann durch entsprechende Fürsorge abgeholfen wird, ohne daß die damit betraute Bürokratie überhandnehmen kann. In diesem Licht scheint mir die Leistungsfähigkeit unseres westlichen Wirtschaftssystems von großer Bedeutung zu sein. Wenn es uns nicht gelingt, die Armut zur Seltenheit zu machen, dann kann es uns leicht passieren, daß wir unsere Freiheit an die Bürokratie des Wohlfahrtsstaates verlieren. 354
Aber ich möchte doch hier einer Ansicht entgegentreten, die man in verschiedener Form immer wieder hört; der Ansicht nämlich, daß die Entscheidung zwischen der westlichen und der östlichen Wirtschaftsform in letzter Linie davon abhängen wird, welche dieser beiden Formen wirtschaftlich überlegen ist. Ich persönlich glaube ja an die wirtschaftliche Überlegenheit einer freien Marktwirtschaft und an die Unterlegenheit der sogenannten Planwirtschaft. Aber ich halte es für ganz falsch, unsere Ablehnung der Tyrannei mit wirtschaftlichen Überlegungen zu begründen oder auch nur zu bestärken. Auch wenn es so wäre, daß die staatliche, zentralistisch geplante Wirtschaft der freien Marktwirtschaft überlegen ist, wäre ich gegen die Planwirtschaft; deshalb nämlich, weil sie die Macht des Staates bis zur Tyrannei vergrößert. Es ist nicht die Unwirtschaftlichkeit des Kommunismus, die wir bekämpfen: Es ist seine Unfreiheit und seine Unmenschlichkeit. Wir sind nicht bereit, unsere Freiheit für ein Linsengericht zu verkaufen – auch nicht für das der höchsten Produktivität und des größten Reichtums, der größten wirtschaftlichen Sicherheit – falls so etwas sich mit Unfreiheit erkaufen ließe. Ich habe hier mehrere Male das Wort »Masse« gebraucht, insbesondere um darauf hinzuweisen, daß die Bedürfnissteigerung und der wirtschaftliche Ehrgeiz der Massen etwas Neues ist. Es ist mir gerade deshalb wichtig, mich von denen zu distanzieren, die das Wort »Vermassung« im Munde führen und unsere Gesellschaftsform als eine Massengesellschaft (mass society) bezeichnen. Das Wort »Vermassung« ist ein beliebtes Schlagwort geworden, ebenso wie 355
das Wort vom »Aufstand der Massen«, das wirklich Massen von Intellektuellen und Halbintellektuellen fasziniert zu haben scheint. Ich glaube nicht, daß diese Schlagworte auch nur das geringste mit unserer sozialen Wirklichkeit zu tun haben. Unsere Sozialphilosophen haben diese Wirklichkeit falsch gesehen und falsch dargestellt. Sie haben die soziale Wirklichkeit falsch gesehen, weil sie sie durch die Brille der platonisch-marxistischen Sozialtheorie gesehen haben.
(Zum folgenden vergleiche man meine Bücher The Poverty of Historicism, 1957, und The Open Society and Its Enemies, 1945, 141984, deutsch: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1. Band, Der Zauber Platons, insbesondere Kapitel 8; 2. Band, Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen), Verlag Francke, Bern. )
Platon war der Theoretiker einer absolutistisch-aristokratischen Regierungsform. Er stellte als Grundproblem der Staatstheorie die folgende Frage auf: »Wer soll herrschen? Wer soll den Staat regieren? Die vielen, der Mob, die Masse, oder die wenigen, die Auserwählten, die Elite?« Wenn man die Frage »Wer soll herrschen?« als grundlegend annimmt, dann gibt es offenbar nur eine vernünftige Antwort: nicht die Unwissenden, sondern die Wissenden, die Weisen; nicht der Mob, sondern die wenigen Besten. Das ist Platons Theorie der Herrschaft der Besten – der Aristokratie. Es ist merkwürdig, daß die großen Gegner dieser platonischen Theorie – die großen Theoretiker der Demokratie, wie zum Beispiel Rousseau – die Fragestellung Platons akzeptierten, statt sie als unzulänglich abzulehnen. Denn 356
es ist ja klar, daß die grundlegende Frage der Staatstheorie eine ganz andere ist, als Platon annahm. Sie ist nicht »Wer soll herrschen?« oder »Wer soll die Macht haben?«, sondern »Wieviel Macht soll der Regierung eingeräumt werden?« oder vielleicht noch genauer: »Wie können wir unsere politischen Einrichtungen so ausbauen, daß auch unfähige und unredliche Machthaber keinen großen Schaden anrichten können?« Mit anderen Worten, das Fundamentalproblem der Staatstheorie ist das Problem der Zähmung der politischen Macht – der Willkür und des Mißbrauches der Macht – durch Institutionen, durch die die Macht geteilt und kontrolliert wird. Ich zweifle nicht daran, daß die Demokratie, an die der Westen glaubt, nichts anderes ist als ein Staatswesen, in dem die Macht in diesem Sinn beschränkt und kontrolliert ist. Denn die Demokratie, an die wir glauben, ist kein Staatsideal. Wir wissen sehr wohl, daß vieles geschieht, das nicht geschehen sollte. Wir wissen, daß es kindisch ist, in der Politik Idealen nachzustreben, und jeder halbwegs reife Mensch im Westen weiß: Alle Politik besteht in der Wahl des kleineren Übels (wie der Wiener Dichter Karl Kraus einst sagte). Für uns gibt es nur zwei Regierungsformen: solche, die es den Regierten möglich machen, ihre Machthaber ohne Blutvergießen loszuwerden, und solche, die ihnen dies nicht möglich machen oder nur durch Blutvergießen. Die erste dieser Regierungsformen nennen wir gewöhnlich Demokratie, die zweite Tyrannei oder Diktatur. Aber auf den Namen kommt es hier nicht an, sondern nur auf die Sache. 357
Wir im Westen glauben an die Demokratie nur in diesem nüchternen Sinn – als eine Staatsform des kleinsten Übels. So hat sie auch der Mann geschildert, der die Demokratie und den Westen gerettet hat. »Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen«, so sagte einst Winston Churchill, »ausgenommen alle anderen Regierungsformen.« Platons Frage »Wer soll regieren? Wer soll die Macht haben?« ist also falsch gestellt. Wir glauben an die Demokratie, aber nicht, weil in der Demokratie das Volk herrscht. Weder Sie noch ich herrschen; im Gegenteil, Sie sowohl wie ich, wir werden regiert, und manchmal mehr als uns lieb ist. Wir glauben an die Demokratie als die einzige Regierungsform, die mit politischer Opposition und daher mit der politischen Freiheit verträglich ist. Leider wurde Platons Problem »Wer soll herrschen?« von den Staatstheoretikern niemals klar abgelehnt. Im Gegenteil, Rousseau stellte dieselbe Frage, antwortete aber, umgekehrt wie Platon: »Der allgemeine Wille [des Volkes] soll herrschen – der Wille der vielen, nicht der der wenigen«; eine gefährliche Antwort, da sie zur Mythologie und Vergöttlichung des »Volkes« und seines »Willens« führt. Und auch Marx fragte, ganz im Sinn Platons: »Wer soll herrschen, die Kapitalisten oder die Proletarier?«; und auch er antwortete: »Die vielen sollen herrschen, nicht die wenigen; die Proletarier, nicht die Kapitalisten.« Im Gegensatz zu Rousseau und zu Marx sehen wir in dem Mehrheitsentscheid der Abstimmung oder der Wahl nur eine Methode, Entscheidungen ohne Blutvergießen 358
herbeizuführen und mit einem Minimum an Freiheitsbeschränkung. Und wir bestehen darauf, daß die Minoritäten ihre Freiheitsrechte haben, die niemals durch Majoritätsbeschluß beseitigt werden können. Meine Ausführungen werden es wohl klar gemacht haben, daß die Modewörter »Masse« und »Elite« und die Schlagworte von der »Vermassung« und vom »Aufstand der Massen« Ausdrücke sind, die aus dem Ideenkreis des Platonismus und des Marxismus stammen. Ebenso wie Rousseau und Marx die platonische Antwort einfach umkehrten, ebenso kehren manche Gegner von Marx die marxistische Antwort um. Sie wollen dem »Aufstand der Massen« durch einen »Aufstand der Elite« entgegenwirken, womit sie wieder auf die platonische Antwort und den Herrschaftsanspruch der Elite zurückgeraten. Aber das alles ist eben ganz verfehlt. Gott bewahre uns vor dem Antimarxismus, der den Marxismus einfach umkehrt: Wir kennen ihn gut genug. Sogar der Kommunismus ist nicht schlimmer als die antimarxistische »Elite«, die Italien, Deutschland und Japan beherrschte und die nur durch ein Weltblutbad beseitigt werden konnte. Aber, so fragen unsere Gebildeten und Halbgebildeten, kann es recht sein, daß meine Stimme nicht mehr gelten soll als die eines ungebildeten Straßenkehrers? Gibt es nicht eine Elite des Geistes, die weiter sieht als die Masse der Ungebildeten und der deshalb ein größerer Einfluß auf die großen politischen Entscheidungen eingeräumt werden sollte? Die Antwort ist, daß leider die Gebildeten und Halbgebil- 359
deten auf alle Fälle einen größeren Einfluß haben. Sie schreiben Bücher und Zeitungen, sie lehren und halten Vorträge, sie sprechen in Diskussionen und können als Mitglieder ihrer politischen Partei ihren Einfluß ausüben. Ich will aber nicht sagen, daß ich es für gut halte, daß der Einfluß der Gebildeten größer ist als der der Straßenkehrer. Denn die Platonische Idee von der Herrschaft der Weisen und Guten ist meiner Meinung nach unbedingt abzulehnen. Wer entscheidet denn über die Weisheit und Unweisheit? Sind nicht die Weisesten und Besten gekreuzigt worden – und von denen, die als weise und gut anerkannt waren? Sollen wir unsere politischen Institutionen auch noch damit belasten, daß wir die Beurteilung der Weisheit, der Güte, der entsagungsvollen Leistung und der Integrität zu einem politischen Problem machen? Als praktisches politisches Problem ist ja das Problem der Elite ganz hoffnungslos. Die Elite kann praktisch von der Clique nie unterschieden werden. Aber das Gerede über die »Massen« und die »Elite« enthält kein Fünkchen von Wahrheit, da es ja diese Massen gar nicht gibt. Woran wir alle ganz persönlich leiden, das ist nicht die »Masse Mensch« – es ist die Masse der Automobile und der Motorräder. Aber der Automobilist und der Motorradfahrer ist ja eben kein Massenmensch. Ganz im Gegenteil: Er ist ein unverbesserlicher Individualist, der, man könnte fast sagen, einen Einzelkampf ums Dasein gegen alle führt. Wenn irgendwo, so ist hier das individualistische Bild »homo homini lupus« anwendbar. Nein, wir leben in keiner Massengesellschaft. Im Gegen- 360
teil, nie hat es eine Zeit gegeben, in der so viele bereit waren, Opfer zu bringen und Verantwortungen zu tragen. Nie zuvor hat es so viel freiwilliges und individuelles Heldentum gegeben wie in den unmenschlichen Kriegen unserer Zeit, und nie war der soziale und materielle Ansporn zum Heldentum geringer. Das Grabmal des unbekannten Soldaten, des unknown soldier, vor dem sich jedes Jahr der Monarch Englands beugt – das drückt unseren Glauben, den Glauben derer, die im Westen leben, an den einfachen, unbekannten Nebenmenschen aus. Wir fragen nicht, ob er der »Masse« angehörte oder der »Elite«. Er war ein Mensch, nehmt alles nur in allem. Es ist der Glaube an den Nebenmenschen und der Respekt vor dem Nebenmenschen, der unsere Zeit zur besten aller Zeiten macht, von denen wir Kenntnis haben; ein Glaube, dessen Echtheit durch die Bereitschaft bewiesen wird, Opfer zu tragen. Wir glauben an die Freiheit, weil wir an unsere Nebenmenschen glauben. Wir haben die Sklaverei abgeschafft. Und wir leben in der besten, weil verbesserungsfreudigsten Gesellschaftsordnung, von der wir geschichtlich Kenntnis haben. Wenn wir von diesem Standpunkt aus zum Osten hinüberblicken, so können wir vielleicht doch noch mit einer versöhnlichen Note schließen. Wohl hat der Kommunismus die Sklaverei wieder eingeführt und die Folter, und das können wir ihm nicht verzeihen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß das alles geschah, weil der Osten an eine Theorie glaubte, die ihm die Freiheit versprach – die Freiheit für alle Menschen. In diesem bit- 361
teren Konflikt dürfen wir nicht vergessen, daß auch dieses ärgste Übel unserer Zeit aus dem Wunsche geboren wurde, anderen zu helfen und für andere Opfer zu bringen.