Linienintensität
Gott kümmert sich nicht um unsere mathematischen Schwierigkeiten. Er integriert empirisch.
aus: “Einstein sagt”, Piper Verlag, S 309
Im Wasserstoffatom schwirrt ein einzelnes Elektron um den Atomkern. Man darf sich die Schalen, in denen das Elektron bevorzugt herumschwirrt, ungestraft als Ladungswolken denken. Überhaupt vergessen Sie bitte das Elektron vorerst und denken nur an Wolken.
Man darf sich auch vorstellen, dass es zwischen diesen Wolken blitzt.
Zwei Dinge:
Erstens: Die Wolken tragen Energien bestimmter Niveaus. Die Blitze zwischen den Wolken haben verschiedene Farben, die umso bläulicher sind, je grösser der Energieunterschied zweier Wolken ist. Mit kleineren Energieabständen werden die Blitze immer rötlicher. Die dabei möglichen Farben sind nicht kontinuierlich, es sind nur eine Handvoll Energieniveaus und damit Farben möglich.
Zweitens: die Häufigkeit der Blitze erklärt die Theorie durch eine Art “Grad der Überlappung” jeweils zweier Ladungswolken. Je grösser diese spezielle Überlappung zweier Wolken, desto grösser ist deren Polarisierung zueinander und desto öfter blitzt’s zwischen diesen beiden Wolken.
Ja, auch wenn der Abstand zweier Wolken auf der Energieskala grösser wird, kann trotzdem diese spezielle Form der “Überlappung” zunehmen. Ins blaue gehende Blitze können so durchaus auch wieder mehr werden.
Die Theorie gestattet natürlich nicht nur die Berechnung der Häufigkeit der Blitze, sondern auch der Niveaus der Wolkenenergien. Dazu ist es nicht zwingend notwendig, die jeweilige Form der Wolke zu ermitteln (deBroglie’s alte Methode). Die Theorie liefert hier eine Reihe von Zahlen, welche die Gesamtheit jener Energieniveaus angibt die überhaupt vorkommen können. Die Theorie gibt an, welche Energieniveaus überhaupt möglich sind. Die Theorie gibt die objektiv existierenden Möglichkeiten an.
Die Form der Wolken wird erst dann relevant, wenn es nicht mehr nur um die Farben der Blitze geht, sondern wenn es darum geht, wie oft es tatsächlich blitzt. Wenngleich also die Form der Wolken irrelevant ist, wenn es nur um die Angabe der Möglichkeit einer Farbe geht, so wird diese Wolkenform umso wichtiger für die Frage wie oft eine dieser Farbmöglichkeiten realisiert ist. Die dazu nötige Berechnung der jeweiligen “Überlappungen” zweier Ladungswolken ist mathematisch ein Integrationsvorgang gemäss der sogenannten Born-Regel.
Nun hatte ich Sie am Anfang gebeten, das Elektron zu vergessen und nur an Wolken zu denken. Diese Bitte erlaubte ich mir deshalb, weil die Form der Wolke bestimmt, welche Wahrscheinlichkeit einem gewissen Ort für das Auftreten des Elektrons zugedacht wird. Trotz dieser bevorzugten Lokalisierung ist weiterhin jeder beliebige Ort als Aufenthalt des Elektrons möglich, durch die Theorie wird also kein Ort prinzipiell komplett ausgeschlossen.
Hier ist der springende und paradoxe Punkt dieser: während Möglichkeiten an sich objektiv existieren, sind etwaige Wahrscheinlichkeiten denselben bloss zugedacht.
Während objektiv jeder beliebige Ort als Aufenthalt des Elektrons möglich ist, ist einer bestimmten Koordinate bloss zugedacht, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Elektron sich dort aufhält. Und darum ist auch die Ladungsverteilung bloss zugedacht, ist auch die Polarisierung bloss zugedacht, sind in letzter Konsequenz auch die Anzahl der Blitze bloss zugedacht.
Also: während die Theorie die möglichen Farben objektiv angibt, ist die Häufigkeit der Blitze den jeweiligen Farben bloss zugedacht.
Im Sprachgebrauch verwende ich abwechselnd die drei Begriffe “wahrscheinliche Anzahl”, “Häufigkeit”, “Wahrscheinlichkeit”. Diese drei Begriffe meinen im Grunde dasselbe, jedenfalls eine bloss gedankliche Zuschreibung an eine objektiv existierende Möglichkeit.
Die Sache wird etwas klarer, wenn man sich am Beispiel der Blitze die Wahrscheinlichkeit zwar als eine Anzahl denkt, aber nicht etwa als erwartete Anzahl in Zukunft, sondern als eine Zahl, die den bereits vergangenen Blitzen zugeschrieben wird. Es stellt sich heraus, dass die Anzahl der tatsächlich in der Vergangenheit gefallenen Blitze nie und nimmer der zugeschriebenen Häufigkeit entspricht.
Ok, der Ausdruck “nie und nimmer” ist hart. Zur Erklärung will ich aus den Feynman Lectures Kapitel 6 zitieren, NA meint hier die Häufigkeit:
You may have noticed another rather “subjective” aspect of our definition of probability. We have referred to NA as “our estimate of the most likely number …” We do not mean that we expect to observe exactly NA, …
Feynman stimmt mir also zu, dass die zugeschriebene Häufigkeit nicht genau der tasächlichen Anzahl entspricht. Das ist mit meinem “nie und nimmer” gemeint. Er fährt fort:
… but that we expect a number near NA , …
In dem ganzen Zitat sträube ich mich gegen dieses zweimalige “expect”, es ist eine Sprachverwirrung die in die Zukunft zeigt.
Generell scheint mir bei epistemologischen Fragen die Methode der Archäologie mit ihrem Blick in die Vergangenheit fruchtbarer. Ich vermute weiters dass auch das “shut up and calculate” öfter zur Erklärung vergangener Tatsachen verwendet wird als zur Vorhersage der Zukunft. Zweifelsfrei ist, dass sich jede Theorie nach genau gleichem Maßstabe an der Vergangenheit wie am Experimentum Crucis messen lassen muss.
Von der Quantentheorie wird also erstens die Reihe der möglichen Farben objektiv angegeben. Und von der Theorie wird zweitens angegeben, wie die Häufigkeiten von einem rationalen Agenten zu denken sind. Oder besser: wie die Häufigkeiten durch freie Meinungsbildung zwangsläufig gesetzt sind damit dann die Sache optimal integriert wird.
In diesem Sinne sind die Wörter “subjective”, “estimate”, “most likely”, “expect” (2x), “near”, “more likely” in Feynmans Zitat zu verstehen:
… and that the number NA is more likely than any other number in the vicinity.
Interessant ist, dass gegen die Textbuch-Quantenmechanik zwar alternative Formulierungen heiss diskutiert werden (z.B. Bohm, GRW, Everett), dabei aber die Integration nach der Born-Regel im Grunde nicht angetastet wird. Flapsig formuliert meine ich: während über den objektiven Teil der Quantenmechanik gestritten wird, herrscht Konsens über jenen Teil welcher eine konsensuale Setzung aus sich heraus fordert. Konsens scheint zumindest über jenen Teil zu herrschen, der die Häufigkeiten regelt.
Ich will nochmal wiederholen dass der objektive Teil der Theorie behauptet, dass das Elektron überall sein kann.
Die angenommene Häufigkeit der Blitze entspricht beim Wasserstoff der gemessenen Lichtintensität einer Spektrallinie. Die Intensität ist natürlich wirklich, kommt aber auf eine Weise zustande, die niemand kennt, jedenfalls auf eine Art und Weise die anders ist als sich das der rationale Agent denken muss. Die Intensität wird von Gott nämlich empirisch integriert.