Schrödingers Katze in seinen eigenen Worten (Seite 112 Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik, Naturwissenschaften, 29. Nov 1935, Heft 48):

Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem GEIGERschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Lauf einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die Ψ-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze (s.v.v.) zu gleichen Teilen gemischt sind.

Das Typische an diesen Fällen ist, daß eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden lässt. Das hindert uns, in so naiver Weise ein “verwaschenes Modell” als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen.

Zitat Ende. Die Abkürzung s.v.v heisst “sit venia verbo” und ist Latein für wörtlich “dem Worte sei Verzeihung” oder besser “entschuldigen sie den Ausdruck”.

Das Beispiel mit der Katze scheint mir unnötig mysteriös. Denn Einstein hat Monate vorher (am 8. August 1935) in einem Brief an Schrödinger das viel klarere Beispiel einer Bombe gebracht (ich kenn leider nur die englische Übersetzung des Briefes):

The system is a substance in chemically unstable equilibrium, perhaps a charge of gunpowder that, by means of intrinsic forces, can spontaneously combust, and where the average life span of the whole setup is a year. In principle this can quite easily be represented quantum-mechanically. In the beginning the psi-function characterizes a reasonably well-defined macroscopic state. But, according to your equation [i.e., the Schrödinger equation], after the course of a year this is no longer the case. Rather, the psi-function then describes a sort of blend of not-yet and already-exploded systems. Through no art of interpretation can this psi-function be turned into an adequate description of a real state of affairs; in reality there is no intermediary between exploded and not-exploded.

Zitat Ende. Dass es niemals sein kann, dass eine Bombe explodiert und gleichzeitig nicht-explodiert, leuchtet jedem sofort ein. Weil man sofort hört und sieht, wenn eine Bombe explodiert. Einstein sagt damit: die Ψ-Funktion ist kein Abbild der Wirklichkeit. Schrödinger stimmt zu und bringt seinerseits das Katzenbeispiel um dasselbe nochmal zu sagen, was Einstein ihm vorher mitgeteilt hat.

Das Beispiel mit der Katze ist aber schlechter, und das ist der Punkt. Weil die stirbt im Stillen in ihrer Kammer, es ist also möglich, dass das niemand bemerkt und jeder Mensch kann sich darum einreden “hör ich nicht, seh ich nicht, riech ich nicht: kann nix drüber sagen, gibt’s für mich nicht, ist mysteriös, nix genaues weiss man nicht, hat niemand nix je gewusst”.

Was ich so schrecklich an dem Katzenbeispiel finde ist dies: Auch jeder beliebige Wissenschaftler, nennen wir ihn den Physiker Kurt, kann sich allzuleicht hinter seiner Rolle als objektiver Wissenschaftler verstecken um sich als unzuständig zu erklären. Oder vielmehr: das Katzenbeispiel lässt ihm (im Gegensatz zum Bombenbeispiel) eine Tür offen, sich zu verstecken. Kurt kann, wenn er denn will, sagen: “ich kann die Katze nicht beobachten, sie ist ja in der Schachtel, daher darf ich über ihren physischen Zustand als Physiker nix sagen”. Gegen dieses Argument von Kurt ist nur mit einem immensen Aufwand an Ergenntnistheorie anzukommen. Das Kurt-Argument ist am Ende des Tages natürlich nicht triftig, der Physiker muss als Teil seiner Arbeit eine Aussage über den physischen Zustand der Katze treffen. Die ehrliche Aussage ist “es ist meine Aufgabe eine Aussage zu treffen, ich bin im Moment zu dumm eine Aussage zu treffen, meine Theorie ist zu schlecht, wir arbeiten dran”. Wenn Kurt sagt “ich darf als anständiger Physiker nix sagen”, dann sag ich “Pfui Teufel, lieber Kurt, try harder, lieber Kurt, gib dem Steuerzahler wenigstens ein besseres Beispiel, lieber Kurt, wie das mit der Bombe, dann wird zumindest die ungelöste Problemstellung klar”.

Nochmal weils so wichtig ist: das Katzenbeispiel lässt folgende Aussage zu: “Wir dürfen nix sagen, weil wir können niemals was sehen, ein Profi arbeitet prinzipiell daran nicht weiter”. Diese Aussage ist keine aufgeklärte Sichtweise, eher so “Geheimnis des Glaubens” mässig, entspricht also nicht der wissenschaftlichen Methode. Diese Aussage müsste, so sie vor Gericht getroffen würde, in einer Demokratie als Nonsense abgelehnt werden. Das Bomenbeispiel zwingt zu folgender Aussage: “Wir können leider noch nix sagen, weil unsere Theorie ist gegenwärtig zu schlecht, als Profis konnten wir dem Steuerzahler zumindest diesen Schwachpunkt klar zeigen”. Das ist die aufgeklärte und einzig akzeptable Haltung. Sobald der seriöse Physiker von der Katze hört, muss er zum Sprengstoff greifen.

Interessant ist der zeitliche Ablauf des zugehörigen Briefwechsels: Einstein schreibt einen Brief an Schrödinger am 8. August mit dem Bombenbeispiel, Schrödinger schreibt einen Brief zurück am 19. September mit der Katze.

Schrödinger musste klar sein, dass seine Katze den Sachverhalt schlechter wiedergibt als Einsteins Bombe. Warum also antwortet Schrödinger mit einem Beispiel das unklarer ist und seither die Welt verwirrt und ablenkt von der Tatsache, dass die Ψ-Funktion kein Abbild der Wirklichkeit ist? Einerseits wohl genau aus dem Grund, dass mysteriöse und rätselhafte Ideen die Zeit länger überdauern als klare und verständliche Ideen. Gleichnisse und Rätsel sind eine Art Zeitkapsel für Ideen. Das wusste Schrödinger wohl so gut wie James Joyce.

“I’ve put in so many enigmas and puzzles,” James Joyce once explained to Jacques Benoist-Méchin, the translator of the French edition of Ulysses, “that it will keep the professors busy for centuries arguing over what I meant, and that’s the only way of insuring one’s immortality.” Ich konnte keinen Beleg für dieses Joyce Zitat finden, aber für mich ist klar, dass Joyce ein Dubliner Spitzbube und Schrödinger eben ein Wiener Spitzbube war.

Nur die Erklärung “Katze besser als Bombe weil bleibt besser im Gedächtnis” reicht mir nicht.

Drum schaun wir uns den Zeitpunkt an: das Jahr 1935. Vier Jahre bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges. Bomben als Gedankenexperiment. Blausäure zum Töten von Lebewesen (Schrödinger nennt explizit Blausäure, siehe oben). Zwischen 1942 und 1944 wurde Zyklon B im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in großem Umfang zu industriell organisiertem Massenmord benutzt – Zyklon B ist Blausäure in Pelletsform. 1945 fiel die Atombombe auf Hiroshima.

Für mich ist der wahre Inhalt des Briefwechsels zwischen Einstein und Schrödinger nicht Physik, sondern die moralische Rolle der Wissenschaft in dunklen Zeiten, nämlich das aufgeklärte Denken zu lehren. Ich übersetze frei:

Brief Einstein - Schrödinger, 8. August 1935: “Lieber Schrödinger, wir dürfen deine Gleichung nicht als Weisheit letzter Schluss denken, denn es wird eine Atombombe fliegen in nächster Zeit und es ist absolut unakzeptabel, dass wir auch nur denken dürfen, dass Bomben gleichzeitig explodieren und nicht-explodieren.”

Brief Schrödinger - Einstein, 19. September: “Lieber Einstein, wir dürfen meine Gleichung nicht als Weisheit letzter Schluss denken, denn es werden Juden in Gaskammern sterben in nächster Zeit und es ist absolut unakzeptabel, dass wir auch nur denken dürfen, dass Menschen gleichzeitig tot und lebendig sind.”

Ja, ich behaupte Einstein schrieb über die Möglichkeit einer Atombombe an Schrödinger. Und, ja, ich behaupte Schrödinger antwortete mit der Möglichkeit von Gaskammern. Für beide war 1935 bereits klar, dass es zum Krieg kommen würde. Und Schrödingers Katze sollte nicht als Experiment der Physik, sondern ewig als Metapher der Schoah verstanden werden.