Diracs Kamel
Ich erzähl hier kurz mein Lieblingsgleichnis:
Papa vererbt 17 Kamele an seine drei Kinder. Der Älteste soll die Hälfte, der zweite ein Drittel und der dritte ein Neuntel des Erbes erhalten. Ratlos stehen sie mit den Kamelen auf der Strasse vorm Notar herum weil Dividieren nicht möglich. Da kommt Beduine ums Eck, gibt ein Kamel dazu, Aufgeteilt wird zu 9 + 6 +2 und Beduine reitet lachend weiter, inklusive seines Kamels.
Das 18. Kamel ist das, was wir in der Chemie einen Katalysator nennen.
Ich hab nicht rausgefunden woher die Geschichte stammt, mir gefällt die Annahme, dass es sich um eine alte arabische Geschichte handelt, in der Gott als eine Art 18. Kamel erklärt wird. Oder Papa ist Gott, der Beduine der heilige Geist und Jesus das 18. Kamel. Jedenfalls erspart das 18. Kamel ein umständliches und energieaufwändiges Herumtun und Erklären einer Lebensrechnung die so nicht einfach aufgeht.
Wohl gemerkt, es ginge auch „irgendwie Anders“, aber es wär‘ irre umständlich und energieaufwändig, also nur für Spezialisten der Materie anwendbar. Damit ist dieses „irgendwie Anders“ ein Showstopper, zumindest kaum konkurrenzfähig. Ich mein wer will sich schon mit Polytonalität (etwa eines Joyce oder Stravinsky) abmühen? Am Ende reicht das vielleicht nicht und es braucht noch die Atonalität (eines Schönberg vielleicht). Irre umständlich und energieaufwändig!
Das Erbe von Katholizismus und tiefer Kunst (zumindest der westlichen) hat denselben Sinn: sich durch die Botschaft des Todes lebendig zu fühlen. Der dazu nötige Trick ist die Division von siebzehn durch zwei und drei ohne Rest. (Den Kunstbegriff hab ich von Bernstein, auch Freud mit seinem Eros und Thanatos fällt mir ein, aber da kenn ich mich nicht aus.)
Nicht nur in der Chemie kennen wir das 18. Kamel, sondern auch in der Physik: es ist die Dirac’sche Delta-Funktion 𝛿(x‘-x). Dazu muss man wissen, dass die Delta-Funktion gar keine Funktion ist (eher mehr der Grenzwert einer Kurvenfamilie). Aber man tut so als hätte man eine Funktion.
Sowohl x‘ als auch x stehen für eine beliebige Zahl (reelle Zahl, sagten wir in der Schule). Also: man folgt der üblichen Notation der normalen Schulmathematik, nur halt mit einem 𝛿(x‘-x) in der Rechnung statt etwa einem (x‘-x)-2, und zum Schluss integriert man dann drüber, sogar viel einfacher wie in der Schule, und — schwupp die wupp — das 𝛿(x‘-x) ist weg und die Rechnung stimmt.
Man merke: am Ende wird man das Delta los, man kann und muss drüber „hinwegintegrieren“ im letzten Schritt. Analog gesprochen kann man durch das Delta „durchkürzen“. So wie x/(3*x) immer 1/3 ist, für jede beliebige Zahl x. Das x verschwindet also am Ende. In dem Sinne tut es das Dirac Delta als 18. Kamel auch.
Dirac hat später seinen Geniestrich noch erweitert, mit seinen „bra“ und „ket“. Ein „bra“ schaut so aus: <x’| . Ein „ket“ so |x> . Daraus kann man ein „bra-ket“ bilden was dann die Delta-Funktion ergibt: <x’|x> = 𝛿(x‘-x). Das „bra“ und das „ket“ sind damit jeweils sowas wie die Hälfte der Delta-Funktion.
Zur Erinnerung und Wichtig ist: x kann jede beliebige Zahl sein. Das ist so dermassen wichtig, weil wenn x nur eine ganze Zahl (1,2,3,4 oder so) sein könnt, dann bräucht man die „bra-ket“ Sache nicht. Dieser Fall mit Ganzen Zahlen (bezeichnet mit |n>, im Gegensatz zu |x>) ist in der Praxis der, ja, Quantentheorie, bei weitem Geläufigste: dieser Fall stellt ein Energieniveau im Atom dar. Niveaus sind immer diskret (ganze Zahl) und nicht kontinuierlich (beliebige Zahl). Aber der diskrete Fall reicht eben nicht aus. Der Fall |x> mit beliebiger Zahl steht an der Basis der Quantentheorie, mit ihm steht und fällt das Ganze. Das |x> muss kontinuierlich gedacht und gerechnet werden, die beliebige Zahl x stellt nämlich einen Punkt im Raum dar.
Mit dem „ket“ |x> kann der Wald- und Wiesenphysiker jetzt so umgehen, als wäre |x> eine Funktion über die man wie in der Schule integrieren könnte, wie etwa über x-2. Dank Dirac. Wenn der echte Mathematiker (im Gegensatz zum Physiker) rechnet, verzichtet er zwar auf die Dirac Notation <|>, er muss aber viele zusätzliche Zeilen ausschreiben und mit Gelfand-Tripel arbeiten, damit alles funktioniert, Sachen, von denen der normale Durchschnittsphysiker nie etwas hören will. Gelfand ist wie Joyce und Strawinsky. Dann schon lieber unser 18. Kamel, das bra-ket <|> von Dirac. Am Ende kommt eh dasselbe raus, weil die Notation von Dirac den Physiker daran hindert, Rechenschritte zu machen die unerlaubt sind.
Zum Abschluss wieder zurück zur Chemie, zum Valenzstrich. Der ist zwar kein wirkliches Kamel, weil man ihn am Ende nicht los wird, aber das Zitat von Schrödinger passt einfach zu gut: „und das ist nicht der erste Fall, dass man auf etwas nicht verzichtet, was man eigentlich nicht für ganz richtig hält“. Gott sei Dank.