Wahrscheinlich objektiv
Wittgensteins Tractatus ist für mich zum grossen Teil unverständlich. Aber zumindest weiss ein ehemaliger Physikstudent, dass man Bücher auch lesen kann, wenn man sie nicht versteht. Das ist sogar die wichtigste Fähigkeit: sich von komplizierten Zeichen und Worten nicht einschüchtern lassen.
Und manchmal taucht dem Unerschrockenen dann etwas auf, was ihm voll die Augen öffnet. Bei mir ist es die Passage mit der Nummer 5.154 des Tractatus:
„In einer Urne seien gleichviel weisse und schwarze Kugeln (und keine anderen). Ich ziehe eine Kugel nach der anderen und lege sie wieder in die Urne zurück. […]
Wenn ich nun sage: Es ist gleich wahrscheinlich, dass ich eine weisse Kugel wie eine schwarze ziehen werde, so heisst das: Alle mir bekannten Umstände (die hypothetisch angenommenen Naturgesetze mitinbegriffen) geben dem Eintreffen des einen Ereignisses nicht mehr Wahrscheinlichkeit als dem Eintreffen des anderen. Das heisst, sie geben – wie aus den obigen Erklärungen leicht zu entnehmen ist – jedem die Wahrscheinlichkeit ½.
Was ich durch den Versuch bestätige ist, dass das Eintreffen der beiden Ereignisse von den Umständen, die ich nicht näher kenne, unabhängig ist.“
Der letzte Satz hat mir die Augen geöffnet. Wahrscheinlichkeit ½ heisst: Die erwarteten Ereignisse sind komplett unabhängig von den weiters nicht bekannten Umständen. Abhängigkeit besteht nur von den allgemein bekannten Rahmenbedingungen (natürliche und nationale Gesetze inklusive): es gibt eine Urne, es gibt Kugeln, es sind gleichviel weisse wie schwarze usw.
Warum das so eine Erleuchtung ist? Weil mir immer das Gegenteil erklärt wurde. Weil mir immer erklärt wurde, Wahrscheinlichkeit drücke eine Abhängigkeit von den unbekannten Umständen aus. Das Eintreffen eines Ereignisses sei nicht sicher, weil das Unbekannte hineinspielt.
Und in gewissem Sinne war es ja auch richtig, dass man mir dieses Gegenteil beibrachte, nämlich dass Wahrscheinlichkeit Abhängigkeit ausdrücke. Lass mich elaborieren.
Nehmen wir als Beispiel für eine solche Abhängigkeit die Wettervorhersage. Da kann man z.B. lesen: „Je nach Wind liegen die Nachmittagstemperaturen zwischen 4 und 8 Grad“. Die Temperatur liegt also höchtwahrscheinlich bei 6 Grad, aber da wir den Wind nicht kennen, kann’s auch etwas kühler oder wärmer werden.
D.h. Die Temperatur ist vom Unbekannten abhängig. Sie ist nicht genau bekannt, weil sie vom Wind abhängt, von dem wir nicht wissen woher er weht.
Gehen wir von der Wetterredaktion über zu Wittgenstein. Nehmen wir die Lottozahlen als Beispiel für etwas, das nun gerade nicht von den Umständen abhängt. Der Glückstrichter wurde so konstruiert, dass keine Kugel bevorzugt wird, egal was sonst drumherum los ist.
Das andere Urbeispiel für Umstands-Unabhängigkeit ist denk ich der Münzwurf. Auch Würfel und Roulette fallen mir ein.
For my Money, also für mich, ist das so: wenn Wahrscheinlichkeiten angegeben werden, muss man immer unterscheiden was damit genau gemeint ist. Die Wahrscheinlichkeit kann nämlich in einer der zwei gerade beschriebenen Formen daherkommen: sie kann entweder Abhängigkeit ausdrücken (Wetter) oder sie kann Unabhängigkeit ausdrücken (Würfel).
Mir drängt sich sogar ein weiterer Verdacht auf: Gleichwahrscheinlichkeit hat das Zeug eine objektive Eigenschaft der Welt auszudrücken. Diese Eigenschaft wäre die vollkommene Unabhängigkeit eines der vorhergesagten Ereignisse von den weiteren Umständen.
Sobald irgendwie ungleich gewichtete Wahrscheinlichkeiten angegeben werden, liegt für mich ein Fall von Abhängigkeit vor. Der Angeber konnte oder wollte nicht genau genug hinschauen. Er kennt die Umstände nicht näher, weil er sie nicht genau genug untersuchen konnte oder wollte. Bei ungleichen Gewichtungen kommt also der Verdacht auf eine subjektive Komponente auf. Sie schmecken nach Wettquoten eines Agenten. Der Würfel ist irgendwie auf (allgemein noch) unbekannte Art gezinkt.
Nehmen wir an, wir wären an einer würdevolle Eingrenzung des Absurden in der Welt interessiert. Dann hätten wir hier ein erstes objektives Kriterium für den Erfolg unseres Tuns. Sobald wir nämlich in unserem Erwartungskatalog die Zustände so erschafften, dass Gleichwahrscheinlichkeit herrscht, wäre in der Welt eine objektive Grenze gezogen zwischen bekannten Rahmenbedingungen und unbekannten Umständen.