Kunst und Tragik
Der Titel von Henry Kissinger’s Buch „Leadership“ wurde mit „Staatskunst“ übersetzt. Tatsächlich hab‘ ich keine wirklich gute Übersetzung für das englische Wort „leadership“ gefunden.
Im Schlusskapitel schreibt Kissinger: „The West’s secondary schools and universities remain very good at educating activists and technicians“. Das führe zu einer falsch verstandenen Art von Meritokratie von „excellent test scores and sterling résumés“, junge Akademiker sähen sich lieber als „globe-trotting“ und sprächen von „self expression“. Wirkliche Meritokratie bestünde jedoch in „deep literacy“, junge Menschen sollten versuchen „regional-level leaders in civil service“ zu werden und von „obligation“ sprechen.
Kissinger beklagt die Vernachlässigung der humanistischen Ausbildung „even, perhaps, classical antiquity“, welche eine gute Grundlage für echte Meritokratie darstelle.
Ich selbst kann ihm nicht widersprechen, da ich ein rein technisches Studium absolviert habe und nie einen Drang zum gesellschaftlichen Engagement hatte. Auch hab ich den (zugegeben stark subjektiven) Eindruck dass viele junge Studierende und -innen Soziologie mit Sozialismus verwechseln. Das Erstere ist eine Wissenschaft, das andere eine politische Strömung. Könnte mehr humanistische Bildung den Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik klarer werden lassen? Könnte mehr humanistische Bildung klar machen, dass Universität Wissenschaft und nicht Politik unterrichtet? Mir fehlt zu einem Urteil eben grad die humanistische Bildung.
Ich tue jedoch mein Bestes und hab mir im Burgtheater „Antigone“ von Sophokles angeschaut. Antigone wird darin zum Hungertod verurteilt, weil sie ihren Bruder nach gängigem Ritus bestattet obwohl ihr Onkel (= König) den nicht mag und das untersagt hat. Sie bringt sich um, genauso wie ihr Cousin (der auf sie steht) und dessen Mutter, die Königin.
Ich weiss nicht ob man im Iran Antigone aufführt, ihr Schicksal erinnert mich an Mahsa Amini. Eine Aufführung wär gut, da in Antigone der König am Ende erkennt, dass er ein Vollidiot ist.
Irgendwie fangen wir in Mitteleuropa mit solcher Tragik nichts mehr an. Moderne Theaterstücke würden einfach die Trostlosigkeit eines toten Bruders darstellen. Die Idee ihn nicht zu begraben scheint schon allein aus hygienischen Gründen lächerlich.
Im Burgtheater werden so klassische Tragödien nur selten aufgeführt, aber wenn man weiter den Ring runtergeht, sieht man sowas täglich. In der Staatsoper wird von Aida über Götterdämmerung bis Tosca das volle tragische Programm geboten.
Ich hab da einen Verdacht und der heisst „Skin in the Game“. In der Oper gehen die Darsteller nämlich tatsächlich ein grosses persönliches Risiko ein. Trifft der Sänger das hohe B nicht richtig, wird er gnadenlos vom Publikum ausgebuht (ich sag nur 1992, Pavarotti, Don Carlos, Scala). Die in der Loge kennen die neuralgischen Stellen (und oft nur die) und wollen Blut sehen. Und darum ist das Publikum bereit solche, entschuldigt den Ausdruck, lächerlich tragischen Stoffe zu akzeptieren oder sogar zu verlangen. So die These.
Es gibt eine weitere theatralische Aufführungspraxis, die solche tragischen Stoffe verträgt. Sie ist nicht in Mitteleuropa und auch nicht im Iran beheimatet, sondern eine genuine Kunstform der USA: das Wrestling.
Ich schaue mit Begeisterung die legendäre Auseinandersetzung Eddi Guerrero vs. Ray Mysterio aus dem Jahr 2005. In diesem Stück ist Ray der Ziehvater des leiblichen Sohnes von Eddi. Der Sohn ist 7 Jahre alt und kennt nur Ray als seinen Vater. Nun will Eddi den Sohn zurück. Recht steht gegen Recht, ein tragischer Konflikt. Nur der Zweikampf kann eine Lösung bringen. Weil die Schauspieler im wahrsten Sinn des Wortes Skin in the Game haben, kann das Publikum bei diesem Schmunzes so richtig mitgehen (ich auch, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte).
Also bitte beim amerikanischen Wrestling immer die humanistische Seite mitdenken. Ich für meine Teil wüsste jedenfalls, welche Einladung ich annehmen würde, wenn ich zwischen einer live Performance Burgtheater vs. SummerSlam entscheiden könnte.