Gespenst von Canterville
Ich kiefelte lang an der Übersetzung des folgenden Satzes von Oscar Wilde aus 1887:
„We have not cared to live in the place ourselves“, said Lord Canterville, „since my grandaunt, the Dowager Duchess of Bolton, was frightened into a fit, from which she never really recovered, by two skeleton hands being placed on her shoulders as she was dressing for dinner.“
Probier erst mal selbst eine Übersetzung, damit du das Folgende richtig geniessen kannst. Ich Reihe die Übersetzungen nach Qualität, die Quellen finden sich unten.
1) „Wir haben nicht gewollt zu leben an dem Ort selbst“, sagte Lord Canterville, „seit meine Großtante, die Herzoginwitwe von Bolton, war zu Tode erschrocken in einen Anfall, von dem sie nie wirklich sich erholte, durch zwei Skelett- Hände seiend platziert auf ihren Schultern als sie war ankleidend für Abendessen.“
2) „Wir wollten selbst nicht an diesem Ort leben“, sagte Lord Canterville, „seit meine Großtante, die Herzoginwitwe von Bolton, zu einem Anfall geängstigt wurde, von dem sie sich nie mehr wirklich erholt hat, von zwei Skeletthänden, die auf ihren Schultern platziert wurden, als sie sich fürs Abendessen ankleidete.“
3) „Wir hatten kein Verlangen mehr, selber an dem Ort zu wohnen“, sagte Lord Canterville, „seit meine Großtante, die Herzogin-Witwe von Bolton, in einen Zustand des Schreckens versetzt wurde, von dem sie sich nie mehr richtig erholt hat, bewirkt durch zwei Skelett-Hände, die sich auf ihre Schultern legten, als sie sich gerade zum Dinner umkleidete.“
4) „Wir haben selbst nicht in dem Schloss gewohnt“, sagte Lord Canterville, „seit meine Großtante, die Herzogin-Mutter von Bolton, einst vor Schreck in Krämpfe verfiel, von denen sie sich nie wieder erholte, weil ein Skelett seine beiden Hände ihr auf die Schultern legte, als sie gerade beim Ankleiden war.“
5) „Wir haben selbst nicht mehr im Schloss gewohnt“, sagte Lord Canterville, „seitdem meine Großtante, die verwitwete Herzogin von Bolton, einen furchtbaren Nervenschock erlitt, von dem sie sich nicht mehr erholte, weil sich ihr zwei Totenhände auf die Schulter legten, als sie sich gerade zum Dinner ankleiden wollte.“
6) „Wir selber haben es nicht über uns gebracht, im Schloß zu wohnen“, sagte Lord Canterville, „seit meine Großtante, die verwitwete Herzogin von Bolton, vor Schreck einen Nervenschock erlitt, von dem sie sich niemals völlig erholt hat, weil sich ihr zwei Knochenhände auf die Schultern legten, als sie sich zum Abendessen ankleidete.“
7) „Wir mochten selber nicht mehr dort wohnen“, sagte Lord Canterville, „seit meine Großtante, die Herzoginwitwe von Bolton, vor Schreck einen Anfall bekam, von dem sie sich nie mehr so recht erholte, weil sich zwei Knochenhände auf ihre Schultern legten, als sie sich zum Dinner ankleidete.“
Hier die Quellen und nochmal der Vergleich der zentralen Passage: „since she was frightened into a fit by two skeleton hands being placed on her shoulders“:
1) Übersetzung 1 ist von Harald Holder (Jahr 2012, Verlag holder-augsburg-zweisparchig), er schreibt in seiner zweisprachigen Ausgabe Wort für Wort unter das Englische, ich finds herrlich englisch: „seit sie war zu Tode erschrocken in einen Anfall durch zwei Skelett- Hände seiend platziert auf ihren Schultern.“
2) Ulrike Wittmann (Jahr 2020, Verlag EasyOriginal) in ihrer zweisprachigen Ausgabe übersetzt wortgetreu, der deutsche Text steht Halbsatz für Halbsatz zwischen dem englischen Original in Klammern: „seit sie zu einem Anfall geängstigt wurde von zwei Skeletthänden, die auf ihren Schultern platziert wurden“.
3) Auf der Buchmesse Wien’22 hab ich den Verlag jmb (gegründet 2008) entdeckt, der sich auf Übersetzungen fantastischer Geschichten der Weltliteratur spezialisiert hat, eine Geschäftsidee, die ich auch mal hatte, weil alte englische Storys eben gratis. Die Übersetzung von Heiko Postma aus 2012 ist aber lieblos, ich fühle mich abgezockt, gerade weil der Verlag sich (zu Unrecht) als Experte positionierte. C’mon, „bewirkt durch“, ich mein, sorry: „seit sie in einen Zustand des Schreckens versetzt wurde, bewirkt durch zwei Skelett-Hände, die sich auf ihre Schultern legten“.
4) Die älteste deutsche Übersetzung von Franz Blei (Insel Verlag, 1926) ist mittlerweile gemeinfrei und wird von vielen Verlagen, die schnell Reibach machen wollen, einfach übernommen. Bitte solche Ausgaben nicht kaufen: „seit sie einst vor Schreck in Krämpfe verfiel weil ein Skelett seine beiden Hände ihr auf die Schultern legte“.
5) Der Verlage Anaconda hat sich 2008 mehr Mühe gemacht, Richard Zoozmann übersetzt ganz passabel: „seitdem sie einen furchtbaren Nervenschock erlitt weil sich ihr zwei Totenhände auf die Schulter legten“.
6) Ernst Sander (Reclam Verlag) übersetzt bereits 1970 sehr treffend: „seit sie vor Schreck einen Nervenschock erlitt weil sich ihr zwei Knochenhände auf die Schultern legten“.
7) Cordula’s Web ist die genialste Übersetzung, und auch noch frei zugänglich, aber es wird nicht gesagt, wer das Übersetzungsgenie war. Man kann den Lord richtig hören. Ich hab’s lang probiert aber so nie hingekriegt, unglaublich, so natürlich, so einfach : „seit sie vor Schreck einen Anfall bekam weil sich zwei Knochenhände auf ihre Schultern legten“.
Sehen wir uns die Übersetzungsreihe von „two skeleton hands“ an:
0) two skeleton hands 1-3) zwei Skeletthände 4) ein Skelett seine beiden Hände 5) zwei Totenhände 6+7) zwei Knochenhände.
Übersetzungen 1) und 2) sind für zweisprachige Ausgaben, da geht Sekeletthände ja noch durch obwohl es kein deutsches Wort ist, aber in 3) akzeptier ich das nicht mehr (ich geb zu, mich zipft einfach an, dass da so ein Juppi-Startup-Verlag, Gründung 2008, so rein die „zock gemeinfreie Nische ab“ Nummer durchzieht, wo ich doch auf eine schöne neue Übersetzung gehofft hatte). Gut, es wird der wörtlichen Inhalt so gut wie möglich wiedergegeben und es ist vielleicht das Ziel des Verlags eine „moderne“ Übersetzungskunst zu bieten, weil eine mehr „literarische“ Übersetzung in der Qualität über die Serie hinweg nicht einheitlich genug wäre und mit 4) eine solche eh gemeinfrei existiert. Jene von 1926 behält „Skelett“ als Wort bei und führt es als Subjekt ein, die zwei Hände werden aktiv auf die Schultern gelegt. Dies ist nicht exakt und in der Wirkung auch nicht gruseliger. Die auch mehr „literarische“ Version 5) übersetzt mit „Totenhände“, da kann man sich das Falsche drunter vorstellen. Aber „Knochenhände“ in 6+7) bieten die perfekte Lösung aus gutem Deutsch und genauer Übersetzung.
Übersetzung der ganzen Phrase:
0) frightened into a fit by two skeleton hands 1) zu Tode erschrocken in einen Anfall durch zwei Skelett- Hände 2) zu einem Anfall geängstigt wurde von zwei Skeletthänden 3) in einen Zustand des Schreckens versetzt wurde, bewirkt durch zwei Skelett-Hände 4) vor Schreck in Krämpfe verfiel weil ein Skelett seine beiden Hände… 5) einen furchtbaren Nervenschock erlitt weil sich ihr zwei Totenhände… 6) vor Schreck einen Nervenschock erlitt weil sich ihr zwei Knochenhände… 7) vor Schreck einen Anfall bekam weil sich zwei Knochenhände…
Hier sind sich 4)-7) einig, dass nichts übrigbleibt als vom originalen „Anfall durch“ abzuweichen hin zu „Anfall, weil“. Ich denk weil es in einem flüssigen Deutsch nicht anders geht. So man nicht einen neuen Satz mit „Ihr wurden zwei Knochenhände auf …“ beginnen will (Versionen dieser Art gibt’s tatsächlich, ist aber etwas feig find ich).
Als nächstes zu „she never really recovered“. Das „sie erholte sich nie mehr so recht“ ist die Beste Lösung. Hier der Vergleich:
0) she never really recovered. Sie erholte sich 1) nie wirklich 2) nie mehr wirklich 3) nie mehr richtig 4) nie wieder 5) nicht mehr 6) niemals völlig 7) nie mehr so recht.
Hier sind 4) und 5) zu final, alle anderen übersetzen besser, aber nur 7) ist die Sprache des Lord Canterville und damit wird diese Übersetzung zu Literatur. Wenn man schon aus „never really“ von wörtlich „nie wirklich“ zu „nie mehr …“ übergeht, also ein „mehr“ in Kauf nimmt, dann sollte man den so erkauften Spielraum auch in Richtung Formvollendung nutzen.
Nun zu den schwierigen ersten Worten „We have not cared … ourselves.“ Ein „Wir hatten selber kein Verlangen mehr …“ wie in 3) ist viel zu holprig, 6) mit „Wir selber haben es nicht über uns gebracht“ ist noch schlechter. Da ist ein „Wir wollten selber nicht …“ wie in 1)+2) besser, weil einfacher. Version 4)+5) schwindeln sich drüber und lassen das „Wollen“ ganz weg erklären faktisch „Wir haben selber nicht …“. Aber dieses „Wir mochten selber nicht …“ von 7) ist saugut.
Hier ist Folgendes entscheidend um auf diese Lösung 7) zu kommen (die mir nie und nimmer eingefallen wäre): nehmen wir z.B einen Ausruf „Wir mochten leben!“. Der ist schwammig im Vergleich zu „Wir wollten leben!“. Aber ein „Wir mochten selber leben!“ ist superfein. Und dass dieses „ourselves“ am Ende das englischen Satzes dann ein „mögen“ als treffende Übersetzung für „care“ ermöglicht, das ist grosses Kino.
Wenn wir nochmal die gesamte tolle Übersetzung 7) lesen, fragen wir uns vielleicht, wovon die Tante den Schreck bekam, weil die zwei Hände doch nur für die lange Erholungsphase nach dem Anfall… urteile selbst, bevor du Rhythmus, Melodie und gruselig-lustige Wirkung des unerreichten Originals geniesst:
„Wir mochten selber nicht mehr dort wohnen“, sagte Lord Canterville, „seit meine Großtante, die Herzoginwitwe von Bolton, vor Schreck einen Anfall bekam, von dem sie sich nie mehr so recht erholte, weil sich zwei Knochenhände auf ihre Schultern legten, als sie sich zum Dinner ankleidete.“
„We have not cared to live in the place ourselves“, said Lord Canterville, „since my grandaunt, the Dowager Duchess of Bolton, was frightened into a fit, from which she never really recovered, by two skeleton hands being placed on her shoulders as she was dressing for dinner.“