Sisyphos beim Runtergang
Neulich, die Sonne scheint mir entgegen, geh ich die Fussgängerzone runter. Und da kommt mir wieder mal der bärtige Inder mit Turban entgegen. Der latscht da herum und setzt seinen Kurs schon von 20m weit auf sein Opfer, welches er dann von seitlich vorne ansteuert. „A lucky man“, sagt er. „Hello“, sag ich. „You want to know why?“, hör ich von hinter mir. Ich geh natürlich weiter, ich wollt ihn begrüssen, das hab ich getan. Ah dieser Kerl, man muss ihn lieben, als ob ich die Antwort nicht schon längst wüsste!
Ich bin lucky weil ich wie Sisyphos Kaffeepausen mache. Aber hör jetzt nicht auf zu lesen, da kommt noch was.
Sisyphos rollt die meiste Zeit den Stein nach oben. Aber nicht die ganze Zeit. Denn der Stein rollt schneller wieder runter als Sisyphos nachgehen kann. Das wird nie dazugesagt. Bei Camus steht’s ganz klar: „Auf diesem Rückweg, während dieser Pause interessiert mich Sisyphos“.
Sisyphos macht also Kaffeepausen. Hier ist die ganze leise Freude des Sisyphos („Toute la joie silencieuse de Sisyphe est là“). Besser übersetzt: Die ganze Freude kommt hier zum Vorschein. Denn: Sisyphos ist nicht nur während der Kaffeepause lucky, sondern immer! Dass die Freude während der Kaffepause da ist, das ist leicht zu verstehen. Aber warum die Freude immer, wenn auch leise aber immer da ist, das bedarf Erklärung.
Die Kaffeepause sollte jener Zeitpunkt sein, an dem er seine Qual nicht etwa vergisst, sondern kontempliert („il contemple son tourment“). In dieser reinen Reflexion, nur und nur über seinen Stein, ist dann kein Platz für Idole. Er lässt alle Götzenbilder schweigen („il fait taire toutes les idoles“). Und das ist die wahre Freude. Keine Idole. Die Chefs schweigen! Er kommt drauf, dass die Götter nämlich immer schweigen, weil er eh so oder so seinen Stein, seine Qual hat.
Nun, das Schweigen der Chefs hat aber jetzt seinen Preis. Schon richtig, ja, in der Pause kehrte das Universum schlagartig wieder zu seinem Schweigen zurück. Das ist gut. Aber jetzt erheben sich die tausend kleinen Stimmen die da auf der Erde entzückt und verwundert herumwuseln. („Dans l’univers soudain rendu à son silence, les mille petites voix émerveillées de la terre s’élèvent.“). Das ist nicht immer angenehm.
Denn das was die Stimmen flüstern ist oft nicht gut durchdacht („appels inconscients et secrets“). Es sind Einladungen von allen möglichen Leuten („invitations de tous les visages“). Wörtlich übersetzt: Aufforderungen von allen Gesichtern. Sie sind die notwendigen Schattenseiten und der Preis des Sieges („ils sont l’envers nécessaire et le prix de la victoire“). Es gibt keine Sonne ohne Schatten und man muss auch die Nacht kennen.
Darum bin ich glücklich: weil ein Gesicht in der Fußgängerzone zu mir sagt: „A lucky man“. PS: Ein andermal in der Fußgängerzone, wieder so die typische 20m Entfernung, ein bildhübsches Mädel mit Tiroler Akzent. Klemmbrett unterm Arm, Marke: ich will deine Kontonummer für NGO Abbuchungsauftrag. „Hosch kurz Zeit?“ „Sorry, habs eilig“ „Aber du bist auserwählt worden, musst fast stehenbleiben“. Ich kandidiere nicht.